Eindringliche Schilderung
Alice führt uns beim Zusammenlesen der Scherben eines zerbrochenen Spiegels (ein sehr treffendes Bild) durch ihre Vergangenheit mit Niko, ihrer ersten großen Liebe. Ihre Familie, in der der herrische Großvater alle terrorisiert, unterstützt sie nicht, im Gegenteil, sie macht sie körperlich krank und in der Schule das Mobbingopfer, das ist Alice Leben als Niko, der neue Mitschüler in ihre Klasse kommt. An seiner Seite wagt sie den Ausbruch aus ihrem Leben und läuft von zu Hause weg, was ihr zuerst wie eine Befreiung und ein großes Abenteuer vorkommt, doch sie gerät schnell in eine Abwärtsspirale und Niko so zeigt sich, ist unter diesen schwierigen Bedingungen auch nicht der, den sie zu kennen glaubte, denn auch er verliebt die Beherrschung, wird gewalttätig und nutzt sie aus. Julya Rabinowichs Bücher zeichnen sich meiner Meinung dadurch aus, dass sie einen vergessen lässt, dass es tatsächlich kein Teenie-Mädchen ist, dass die Ereignisse schildert, sondern eine erwachsene Roman-Autorin. Mal schlicht und zugleich an den passenden Stellen mit dem Blick für die genau passende Bildhaftigkeit, näher sie sich einfühlsam ihrer Protagonistin. Durch ihren ihr eigenen Schreibstil habe ich immer das Gefühl, da sitzt wirklich Alice vor mir und erzählt, was ihr widerfahren ist. Ihr Stil ist zugleich schlicht und (dadurch?) sehr intensiv: Das Beklemmende in der häuslichem Umgebung, der Schatten, der über Nikos smarte Erscheinung flackert und ein ungutes Gefühl erzeugt ...Alice, die an der Schwelle zum Erwachsensein steht und der ihr Leben wirklich verfahren vorkommt, die den Befreiungsschlag sucht und glaubt, in dem weitgereisten, verständnisvollen Niko ihren Ritter auf dem weißen Pferd gefunden zu haben bevor sie schmerzlich erkennen muss, dass sie von einer toxischen Familienkonstellation in eine toxische Beziehung geflohen ist. Als Leser wird man mit verschiedenen Facetten von Gewalt konfrontiert und den verschiedenen und dennoch immer wieder gleichartigen Spielarten toxischer Beziehungen. Auch Alice wird sich dieser immer weiter bewusst und erkennt, dass es ihren ganzen Mut braucht, um sich aus dieser verfahrenen Situation zu befreien. Dass ihr das gelingt, wird gleich auf den ersten Seiten des Romans auch klar gestellt, noch bevor sie beginnt ihren Weg für uns Leser nachzuzeichnen. Das nimmt den knapp über 200 Seiten aber nichts an Spannung und Dramatik.Der Roman ist ab 14 Jahren empfohlen. Ich halte das für angemessen. Es ist ein Roman, der aber nicht unbesprochen bleiben sollte.