Kaliane Bradleys Romanerstling ist ein ehrgeiziges und überraschend intellektuelles Projekt, das weit mehr zu bieten hat als die altbekannte Zeitreisen-Trope. Die Story spielt im London der 2020er Jahre, aber Bradleys England ist ein Überwachungsstaat, der mit einem Zeitreiseportal experimentiert, um herauszufinden, ob Zeitreisen dem menschlichen Organismus schaden. Zu dem Zweck hat man fünf "Expats" aus ihrer Epoche in die Zukunft - die erzählerische Gegenwart - geholt. Einer von ihnen ist Graham Gore, ein real-historischer Arktisforscher, der 1847 im Eismeer verschollen ist - transferiert kurz vor seinem Kältetod.Den Expats zur Seite gestellt sind sogenannte "Brücken" - in Gores Fall eine namenlose Agentin, deren Aufgabe es ist, Gore behutsam in der Gegenwart zu assimilieren. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive, mit Einschüben, die Gores fiktiv-historische letzte Wochen im Eis schildern. Die Wiederbelebung Gores ist Bradley kongenial gelungen. Seine höflich-empörte Verwunderung über Toilettenspülungen, Flugzeuge und sexuelle Freizügigkeit trifft auf die trockene Ironie der "Brücke" - das führt zu unwiderstehlich witzigen Dialogen mit geistreichen Wortspielen - das große Plus des Romans, das allerdings ab der zweiten Hälfte zunehmend verloren geht.Der kurzweilige Kulturclash gründet in erstaunlicher Tiefe. Die "Brücke" ist die Tochter einer Geflüchteten, die den kambodschanischen Roten Khmer entkommen ist. Gore wiederum ist ein Zeitflüchtling - ein Mann, dem seine Heimat, seine Epoche und sein Weltbild genommen wurden. Bradley zieht geschickt Parallelen zwischen historischen und heutigen Formen der Migration. Gore muss nicht nur mit technologischen Umstellungen klarkommen, sondern auch mit den ethischen und sozialen Umwälzungen, die das moderne Großbritannien prägen - von Genderfragen bis zur kolonialen Vergangenheit, für die er selbst steht. In seinem neuen Leben ist Gore gezwungen, sich mit seiner früheren Rolle im imperialistischen Großbritannien auseinanderzusetzen. In der Beziehung der beiden verhandelt Bradley bei aller Adult-Romantik vor allem die gegenwartspolitische und koloniale Machtdynamik - bis hin zur Frage, ob Liebe selbst eine Form der Kolonialisierung sein kann.Thematisch gerät der Plot unter der Last weiterer Themen leicht ins Schlingern: Klimawandel, Rassismus, Sexismus ... das woke Romanpersonal empfindet Kränkungen, deren Grund mir oft nicht nachvollziehbar war. Seit Sanyals "Identitti" mir die Augen geöffnet hat, bemühe ich mich redlich, aber offenbar mangelt es meiner Wokeness an Subtilität.Im Verlauf des Romans erscheinen die Intentionen des Ministeriums immer fragwürdiger - der Roman wird zu einem Spionagethriller. Statt all der ministerialen Ränke und kumulierten Rätsel hätte ich gerne mehr über die anderen "Expats" gelesen, die als Charaktere ebenso interessant waren wie Gore, aber leider wenig Raum bekamen.Zum Schluss gibt es einen unvermittelten Schwenk zurück ins SciFi-Genre. Beeindruckend die eindringliche Beschreibung der unbegreiflichen Technologie der Zeitmaschine, die eher an ein metaphysisches Ungeheuer erinnert als an eine glänzende High Tech-Apparatur.Nach einem Abstecher zu James Bond komplett mit Motorrad-Verfolgungsjagd liefert Bradley uns eine dramatische Auflösung zum Staunen und ein sehnsüchtiges Unhappy Ending - immerhin mit Lichtstreif am Horizont. Man merkt, dass die junge Autorin große Hoffnungen in die Einsichts- und Lernfähigkeit von Menschen setzt.Zeitreiseroman, Gesellschaftssatire, Adult Romance und postkoloniale Reflexion - ein wilder Ritt. Aber es lohnt sich, oben zu bleiben, denn auch wenn dieser literarische Gaul einen im Mittelteil abzuwerfen droht, fand ich das Leseerlebnis insgesamt doch originell und unterhaltsam.