Atmosphärischer Roman über ein Mutter-Tochter-Verhältnis. Ruhig im Ton, spielt in der karg-schönen nordfriesischen Küstenlandschaft.
Annett, Ende vierzig, hat ihren Mann auf tragische Weise viel zu früh verloren und die gemeinsame Tochter Linn alleine großgezogen. Vor der Geburt Linns hatte sich das Ehepaar ein Haus in einem Dorf am nordfriesischen Wattenmeer gekauft, das Annett noch heute bewohnt. Hier wollten sie gemeinsam ihren Traum verwirklichen - dann kam es anders. Annett erfuhr nach Johans Tod keine nennenswerte Unterstützung von Verwandten oder Freunden. Die Verantwortung, allein für Linn verantwortlich zu sein, lastete schwer auf ihr und ließ sie berufliche Ambitionen auf Eis legen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Annett nur in Teilzeit, so dass das Geld immer knapp ist. Sie behütete das Kind, versuchte Schaden von ihm fernzuhalten und übertrug insgeheim die eigenen Hoffnungen auf Linns Zukunft. Linn erfüllt die Erwartungen zunächst komplett: Sie macht Abitur, engagiert sich in Ökoprojekten, studiert Umweltmanagement und hat nun ihre erste gut bezahlte Stelle bei einer Berliner Beratungsfirma.Doch dann bekommt Annett einen Anruf: Linn ist während eines Vortrags zusammengebrochen und liegt im Krankenhaus. Sofort eilt Annett zu ihr. Sie findet ihre Tochter schweigsam, erschöpft und desillusioniert vor und nimmt sie mit nach Hause an die Küste. Aus ursprünglich einer geplanten Woche werden dreieinhalb Monate, in denen sich die zwei Frauen neu sortieren, organisieren und zusammenraufen müssen. "Wir waren nicht mehr Mutter und Tochter, sondern auf einmal wie Gefährtinnen, die eine nicht jünger als die andere, auf Augenhöhe." (S. 45)Die Berliner Wohnung wird aufgelöst, neue junge Nachbarn bringen Abwechslung in den Alltag. Trotzdem fällt es Annett schwer, ihre Tochter zu verstehen, die in ihren Augen ihre Chancen verspielt, als sie als Aushilfe in der Bäckerei anheuert, und dabei so wenig von sich preisgibt. Die Annäherung erfolgt in kleinen Schritten, erzählt wird meist aus Annetts Perspektive. "Nun schien jede kleine Frage, die ich ihr stellte, anstrengend für sie zu sein. Es war, als würde ich vor einem verschlossenen Haus stehen, an Türen und Fenstern klopfen, doch nirgendwo ließ sich etwas öffnen." (S. 60)Die Gegenwartshandlung wird durch Rückblenden durchbrochen, die beleuchten, was Johans Tod für die kleine Familie bedeutete. Annett ist es nie gelungen, sich aus der Trauer restlos zu befreien. Sie hängt am Haus, an den teilweise verklärten Erinnerungen. Sie hat den Absprung in ein eigenes Leben nie geschafft, ist in eine Art passive Schockstarre gefallen, in der sie sich in latenter Einsamkeit eingerichtet hat und die nun von Linn gestört wird. Linn muss mit der scheinbar großen Enttäuschung, die sie ihrer Mutter zumutet, umgehen. Sie konfrontiert im Gegenzug aber auch Annett mit unschönen Wahrheiten. Vieles aus der gemeinsamen Vita liegt unverarbeitet brach oder wird totgeschwiegen.Die Vergangenheitsbewältigung erfolgt in leisen Tönen und auf eine gutartige, konstruktive Weise. Die beiden Protagonistinnen passen wunderbar in die karge, windgepeitschte und beeindruckende Küstenlandschaft. Gemeinsame Wattwanderungen schaffen Verbundenheit. Literarische Bezüge zum Schimmelreiter oder der untergegangenen Stadt Rungholt unterstreichen perfekt die stimmungsvolle Atmosphäre.In der Konfrontation Mutter - Tochter wird sich fast jede Leserin irgendwo wiedererkennen. Unterschiedliche Perspektiven, Erwartungen oder Prioritäten schaffen immer Spannungen zwischen den Generationen. Sich im Dialog über unterschiedliche Werte, Erfahrungen oder Zukunftsängste und -sorgen auszutauschen, bringt neue Einsichten und weitet die individuelle Wahrnehmung. Am Ende des Buches kann man eine verhaltene Aufbruchstimmung erkennen. Kristine Bilkau integriert die zunehmende Klimaproblematik und übt Kritik am scheinbar widersinnigen Handel mit CO2 Zertifikaten, mit denen sich Unternehmen grünwaschen können.Der Autorin gelingt es, einen Beitrag zur Generationenverständigung zu leisten. Es gefällt mir, wie sie aktuelle sozial- oder umweltkritische Aspekte in die Handlung aufnimmt. Insgesamt hätte ich mir ein bisschen mehr Handlung gewünscht, der Roman lebt sehr von seiner anschaulichen Atmosphäre und den authentischen Dialogen. Insgesamt habe ich ihn sehr gerne gelesen.Ein Buch zum Entschleunigen und zum Entspannen mit Niveau, das im Frühjahr 2025 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde.