In Lisa Quentins Roman geht es um Zwangsadoptionen in der DDR. Die Handlung ist aus den Perspektiven einer betroffenen Tochter und einer betroffenen Mutter erzählt. Nachdem Jules Mutter in Hamburg gestorben ist, findet Jule beim Auflösen der Wohnung zufällig heraus, dass sie ein Adoptivkind ist. Natürlich fragt sie sich, warum Anne, ihre jetzt verstorbene Mutter, darüber nie mit ihr gesprochen hat, wie auch über vieles andere aus ihrer Vergangenheit nicht. Ganz im Gegenteil, Anne hat vollkommen dichtgemacht und war tagelang weder ansprechbar noch handlungsfähig, wenn Jule ihr Fragen stellte. Könnte hier vielleicht die Ursache dafür zu finden sein, warum sie - Jule - schon immer Schwierigkeiten mit Menschen hat? Gedrängt von ihrer einzigen Freundin begibt sie sich, wenn auch zunächst widerwillig, auf die Suche nach der Wahrheit. In einem kleinen Ort bei Rostock lebt Eva. In den achtziger Jahren verbüßte sie eine Haftstrafe wegen versuchter Republikflucht. Damals wurde ihr die in Haft geborene Tochter genommen. In Unkenntnis hatte sie die Einverständniserklärung zur Adoptionsfreigabe unterschrieben. Nach ihrer Entlassung stand sie vor vollendeten Tatsachen, ihre Tochter war unerreichbar für sie. Nach der Abwicklung der DDR versucht sie erneut, ihre Tochter zu finden, stößt aber noch immer auf unüberwindbaren Widerstand. Ab hier Spoiler Ich habe den Roman über das mich zugleich berührende und empörende Thema gerne gelesen, hatte aber durchaus Schwierigkeiten mit den Figuren. Vor allem Jule hat es mir nicht leicht gemacht, sie zu mögen, weil ihr Verhalten für mich viele Fragen aufwirft. Warum hat sie niemandem von Ankes Tod erzählt und sie ganz alleine beerdigt? Warum stößt sie jede Person vor den Kopf, die ihr näher kommt und bricht den Kontakt ab, sobald jemand Interesse an ihr zeigt? Warum kann oder will sie keine Verbindlichkeiten eingehen? Auch Eva, die sie nach erstaunlich kurzer Suche findet, begegnet sie abweisend und mit unausgesprochener Anklage. Über ihr Leben in der Adoptivfamilie und über Anke, über Ankes Tod kurz zuvor erzählt sie ihr nichts. Warum fertigt sie Eva so ab? Was hat sie erwartet? Jule wirkt in ihren nicht vorhandenen Problemlösungskompetenzen auf mich sehr unerwachsen, und das erstaunt mich, da sie bereits als Grundschulkind das Leben mit einer depressiven Mutter meistern musste, viele Umzüge erlebte und die damit verbundene immer neue Entwurzelung erlitt. An keiner Stelle nimmt sie ihr Leben in die eigene Hand oder trifft bewusste, auf Überlegungen basierende Entscheidungen, sondern lässt sich treiben. Es wirkt beinahe so, als ob Anke ihre Depressionen an sie weitergegeben hat. Bei Jules Biografie hätte ich ein gewisses Maß an Resilienz erwartet, stattdessen versinkt sie in Selbstmitleid und Alkohol. Die Figur der Eva ist für mich leichter zugänglich. Ihre Motivation und Vorgehensweisen erscheinen mir schlüssiger und besser nachvollziehbar als Jules Art. Sie schöpft alle Suchoptionen nach ihrer Tochter aus, sobald sie nach 1990 die Möglichkeit hat. Ausgebremst wird sie, als klar wird, dass sie aufgrund ihrer damaligen Unterschrift nur darauf hoffen kann, dass die Tochter ebenfalls nach ihr sucht. Eva ist eine erstaunlich klar und analytisch denkende Frau, die unsagbar Furchtbares erlebt und erlitten hat, der es aber trotz aller Tragik dennoch gelingt, ihrem Leben Struktur zu geben und gesellschaftsfähig zu sein, wenn auch auf völlig andere Weise, als sie es sich als junge Frau erträumt hatte. Ich würde nicht so weit gehen, sie als glücklich zu bezeichnen, aber sie kommt klar. Beide Frauen suchen ihre Mutter respektive ihre Tochter und scheitern bei den zuständigen Sachbearbeitern an einem Vermerk, der auf den Entscheidungen eines nicht mehr existierenden Staates beruht. Ich frage mich, warum weder Mutter noch Tochter die Hilfe eines Anwalts in Anspruch genommen haben. Spoiler Ende Obwohl ich meine Probleme mit der Charakterzeichnung einer der Protagonistinnen habe, gefiel mir dieses Buch außerordentlich gut. Zwangsadoptionen haben in der DDR in unvorstellbar hoher Zahl stattgefunden (dazu gibt es Informationen im Anhang, Stand 2021), nur sehr wenige konnten bislang aufgeklärt werden, und es steht zu befürchten, dass die Aufklärung in den allermeisten Fällen nicht gelingen wird. Im Internet kann man dazu sehr viel nachlesen und dabei wird auch klar, wie schwierig die Gesetzeslage dazu auch heute, mehr als 30 Jahre nach der Einheit, noch immer ist. Gleichzeitig fragt der Roman nach der Bedeutung von Herkunft und Heimat. Mir kam beim Lesen immer wieder die Frage nach dem ererbten Trauma in den Sinn. Wessen Trauma hat Jule geerbt? Anke, die Adoptivmutter, hatte ihre ganz eigenen Probleme, und vielleicht ist der Roman an dieser Stelle damit auch etwas überfrachtet. Die Lektüre lässt mich sehr nachdenklich zurück.