Was, wenn die Seelen derjenigen Menschen, die dem Leben gewaltsam entrissen wurden, nicht friedlich ins Jenseits dahingleiten, sondern als Geister Jagd auf die Lebensenergie anderer machen?
Die Totenbändiger Unheilige Zeiten bildet auf 490 Seiten den ersten Sammelband der gleichnamigen Urban Fantasy Reihe von Nadine Erdmann. In diesem Jahr erschienen alle Bände als Taschenbücher im Kleinstverlag Kuneli. Die Reihe war zunächst digital in drei Staffeln, zu je acht Kurzbänden veröffentlicht worden. Nun wurden jeweils vier Bände in einem Printexemplar zusammengefasst, sodass Band eins Unheilige Zeiten und Band zwei Äquinoktium gemeinsam die erste Staffel bilden. Darüber hinaus schrieb die Autorin anstelle eines siebten Bandes noch einen zusätzlichen Short. Eine Erweiterung des Totenbändiger-Universums ist für die Zukunft geplant.
Wir folgen gleich mehreren Charakteren der Familie Hunt, die in sich bereits eine außergewöhnliche Struktur aufweist. Mehr als die Hälfte der Mitglieder sind Totenbändiger Menschen, die mit der Fähigkeit geboren wurden, die Todesenergie von Geistern zu neutralisieren. Diese entstehen wiederum wenn eine Person gewaltsam zu Tode kommt, etwa durch einen Unfall oder Mord. Sky und Jules Hunt, die leiblichen Kinder von Sue, etwa, haben diese Gabe von ihr geerbt. Die Eltern entschieden sich außerdem dazu, Gabriel, Ella und später auch Camren aufzunehmen, welche ebenfalls Geister bändigen können. Lediglich Connor; Skys Freund, Großmutter Edna und Phil; Sues Ehemann, teilen diese Eigenschaft nicht mit dem Rest der Familie. Camren, dessen Herkunft unklar und düster ist, übernimmt am häufigsten die Rolle des Protagonisten, doch wir lernen auch noch andere Figuren kennen, die weitere Handlungsstränge übernehmen. Wir befinden uns dabei stets in der Gegenwart, in London Hampstead.
Die Totenbändiger wartet mit sensationellem Worldbuilding auf, dass offensichtlich bis ins allerkleinste Detail durchdacht wurde. Gerade deshalb fällt es leicht, sich auf die Geschichte einzulassen. Die Welt, die Nadine Erdmann beschreibt, wirkt erschreckend realistisch, sodass ein immersives Erlebnis geboten wird. Wir lernen einerseits unterschiedliche Geistertypen kennen, erfahren aber auch, welche Auswirkungen die Existenz von Geistern auf das alltägliche Leben hat. So werden Totenbändiger von der Gesellschaft zwar toleriert, jedoch immer mit Missgunst betrachtet: denn sie können nicht nur die Energie von Geistern in sich aufnehmen, sondern theoretisch auch die der Lebenden. Aus diesem Grund haben sie oft Schwierigkeiten, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Da Geister sich von Eisen und Silber fernhalten, werden entsprechende Zäune genutzt und Fäden des teuren Metalls in Westen eingenäht, um Normalos, die keinerlei Fähigkeiten besitzen, zu beschützen.
Gekonnt mischt die Autorin verschiedene Elemente unterschiedlicher Genre wie Krimi, Thriller, Fantasy und LGBTQIA+-Roman. Was gewagt klingt, sorgt im Gegenteil für ein abwechslungsreiches Abenteuer, welches auch über den ersten Band hinweg fesselt und Lust auf mehr macht. Dank der hohen Anzahl an Figuren werden sowohl lesbische, schwule, aber auch polyamore Liebe repräsentiert, was selbst im entsprechenden Genre eher selten der Fall ist. Ebenso wenig wird die Diversität im Buch vernachlässigt: Wir lernen im Laufe der Geschichte unter anderem eine Afrobritin und einen Pakistani sowie einen Menschen mit Albinismus kennen.
Die Figuren verwenden alltägliche Umgangssprache inklusive Schimpfwörtern, Anglizismen und sexuellen Andeutungen, weshalb das Buch wohl für Jugendliche ab 16 Jahren zu empfehlen ist. Anzumerken ist allerdings der problematische Aspekt der Selbstverletzung, der mäßig detailliert beschrieben wird. Diesbezüglich wäre eine Triggerwarnung wünschenswert gewesen, da betroffene Personen andernfalls durch die Lektüre von unangenehmen Erinnerungen überrascht werden könnten.
Anzumerken ist außerdem, dass bereits im Laufe des ersten Bandes eine ungewöhnlich große Menge an Charakteren präsentiert werden, sodass man schnell den Überblick über Verwandschaftsverhältnisse verlieren kann, wenn man die Geschichte nicht in kurzer Zeit beendet. Ein Figurenregister oder etwa ein Stammbaum hätte hier für eine Übersicht gesorgt, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Sicherlich ist eine gewisse Anzahl an Figuren für einen gelungenen Found-Family-Trope unerlässlich, jedoch teilt sich dadurch auf der Fokus auf, was dazu führt, dass nicht alle Persönlichkeiten so ausführlich beschrieben werden, wie es in anderen Geschichten der Fall gewesen wäre. Anstelle einiger Actionszenen hätte man stattdessen ein paar zusätzliche Slice-of-Life-Momente einstreuen können, um diesem Eindruck entgegenzuwirken. Gegen Ende fiel leider auch ein wenig die Spannung weg, da die unterschiedlichen Charaktere zwar häufig in brenzlige Situationen kommen, sie aber stets in kurzer Zeit Hilfe erhalten und ich ohne bleibende Schäden aus der Situation befreien können. Dadurch fiel es leider auch schwerer, sich mit den Figuren zu identifizieren.
Alles ist allem ist Nadine Erdmann mit ihrer Urban Fantasy Reihe ein innvovativer Mix aus unterschiedlichen Genre gelungen, mit denen sie ein großes Publikum anspricht und dieses auch durch moderne Tropes wie Found Family und LGBTQIA+-Liebe zu begeistern weiß. Mithilfe von überraschenden Plot Twists und regelmäßigen Perspektivwechseln baut sie ein Welt auf, die neugierig macht und mit plausiblen Eklärungen für Fantasy-Elemente für bestmögliche Immersion sorgt.
Trotz der großen Vielzahl an Charakteren macht es Spaß, das düstere London zu erkunden und mit dem Spuk Squad auf Geisterjagd zu gehen. Gelegenheit, die Figuren besser kennenzulernen bieten sicherlich auch die Folgebände. Schließlich handelt es sich bei Unheilige Zeiten nur um den Auftakt zur ersten Staffel.
Aus diesem Grund kann ich das Buch ohne Vorbehalte weiterempfehlen vor allem für Jugendliche, die im Fantasy-Genre zuhause sind, aber Lust haben, ein bisschen Krimi-Luft zu schnuppern.