Besprechung vom 06.02.2025
Verlorene Schätze
Susanne Gregors "Halbe Leben"
Die ersten zwei Seiten dieses Kurzromans muss man mehrmals lesen - nicht weil die Sätze so kompliziert wären, sondern weil sie so nonchalant beschreiben, was man dann langsam als Verbrechen begreift. Mit dem Wissen um dieses infiziert, folgt man der sich anschließenden Erzählung natürlich mit dem ständigen Interesse zu erfahren, wie es dazu kam. Und dabei lässt Susanne Gregor, die 1981 in der damaligen Tschechoslowakei geboren wurde und heute in Wien lebt, einen zappeln.
Erzählt wird von einem jungen Paar, sie Architektin, er Fotograf. Die Autorin liebt die lyrische Verdichtung sowie die zynische Zuspitzung: Jakob ist bei Natur- wie Porträtfotografie ein "Jäger der verlorenen Schätze" in der zum Livestream gewordenen Gegenwart; das minimalistisch eingerichtete Eigenheim soll aber "eine optische Ruheoase sein, in der sich Klara vom schlechten Geschmack ihrer Klienten erholen kann". Im Wunschleben der beiden aber ist Klaras zunehmend dementer werdende Mutter ein Störfaktor, und bald heißt es, diese sei "zu einem defekten Rädchen im Uhrwerk ihrer Tage geworden". Die Mutter will aber nicht ins Heim, verschmäht ohnehin Essen von Fremden. Jakob erkennt: "Sie braucht eine echte Person, die ihr liebevoll etwas zubereitet, keinen Lieferdienst." Außerdem erzählt die verwirrte Oma der Enkelin böse Märchen. Klara ist empört, das Kind solle "Katzen und Einhörner malen, aber keine gehirnfressenden Füchse"!
Also wird Paulina engagiert, die dafür ihre beiden Kinder in der Slowakei in die Obhut der Schwiegermutter geben muss: Das ist die Ökonomie der Ungerechtigkeit in Europa. Während es vorübergehend so aussieht, als könnte die Anstellung der Slowakin bei der gut situierten österreichischen Familie allen weiterhelfen, ergeben sich bald Situationen, die für sich genommen von Ausbeutung, in Summe aber von Menschenverachtung zeugen. Paulinas Sohn bricht sich in der Slowakei die Nase, aber "was kann dem Jungen schon passieren?", fragt sich Jakob, um zu rechtfertigen, dass Paulina einfach noch ein paar Tage weiterarbeiten soll, bevor sie nach Hause fährt. Es stellt sich heraus, dass Klara nicht mal den Namen des slowakischen Kindes behalten hat.
Ein bisschen läuft die Erzählung wie am Schnürchen, aber es ist nicht das ganz Überraschende, für das man sie goutiert, sondern es sind ihre entlarvend und teils mit bösem Humor geschilderten Episoden. Auf einer Party bei ihren Arbeitgebern wird Paulina gefragt: "Was hört man in der Slowakei denn so?" Als diese Musik wenig später durch den Raum dröhnt und Jakob wild dazu tanzt, klingt sie "völlig fehl am Platz", die "slowakischen Lyrics stoßen auf taube Ohren", und Paulina erkennt, "dass sie nicht hierhergehört und mit diesen Leuten nichts gemein hat". Die Erfahrung würde sie am liebsten unter der Dusche von sich abwaschen. JAN WIELE
Susanne Gregor: "Halbe Leben".
Roman.
Zsolnay Verlag,
Wien 2025.
192 S., geb.
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