Mein Hör-Eindruck:
Lucy Barton, eine erfolgreiche Schriftstellerin, und ihr Ex-Mann William fliehen vor der Corona-Pandemie aufs Land, nach Maine, ans Meer. Dort sind sie zwar in Sicherheit, aber die Auswirkungen der Pandemie erreichen sie über das Leben ihrer beiden Töchter dennoch. Elizabeth Strout erzählt jedoch keinen Roman über Corona. Streng genommen hat ihr Roman keinen Plot. Die Ich-Erzählerin Lucy erzählt über das tägliche Leben in ihrem gemieteten Haus am Meer. Trotzdem ist der Roman keine Sekunde langweilig.
Lucy wirkt in ihrer negativen Haltung nicht unbedingt sympathisch. Das Meer ist zu grau, die Algen zu glitschig, der Strand zu eintönig, das Leben in Maine zu provinziell und so fort Lucy findet an allem etwas auszusetzen. Aber das zurückgezogene Leben setzt in ihr andere Fähigkeiten frei. Sie entdeckt das Kleine und Unspektakuläre für sich, aber sie verliert nicht den Blick aufs Große, ganz im Gegenteil: aus der Distanz erkennt sie sehr genau die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft, die sich auch in ihrer eigenen Familie spiegelt. Der Rückzug in die Stille am Meer lässt Kindheitserinnerungen in ihr hochkommen, ungute Erinnerungen an ihre Mutter und an die Armut ihrer Familie, die sie und ihre Geschwister von Geburt an auf die Verliererseite der Gesellschaft gestellt hätten.
Auch wenn sich Lucys Erzählungen dem Alltag widmen, ist er Roman alles andere als banal. Es geht um die allgemeinen Themen, denen sich ältere Menschen stellen müssen: z. B. um lebensbedrohliche Erkrankungen, die Einschränkungen des Alters, um Tod, um Verzicht und Verlassenheit und immer wieder um Verluste. Lucy entdeckt aber auch das Glück des Augenblicks durch Beobachtungen der Natur oder das Glück von freundschaftlichen Begegnungen. Lucy erzählt von familiären Krisen und Unglücksfällen und vor allem von ihrer langsam wachsenden Erkenntnis, welchen Wert das Vertraute in ihrem Leben hat.
Der Roman ist ein einziger großer Monolog, der im Plauderton vorgetragen wird, hier perfekt umgesetzt von Barbara Stoll. Immer wieder aber merkt man die menschenfreundliche und lebenskluge Haltung der Autorin, die durch den Monolog ihrer Protagonistin durchleuchtet. Was den Roman zu einem ganz besonderen Hör-Erlebnis macht. Ich freue mich auf den nächsten Roman von Elizabeth Strout.