Besprechung vom 13.03.2022
Die junge schwarze Frau als Genre
Natasha Browns "Zusammenkunft" spielt kalt und klug mit den Erwartungen an einen Aufstiegsroman.
Eine junge schwarze Britin schreibt einen Roman, in dem es um eine junge schwarze Britin aus einer armen Einwandererfamilie geht, die den gesellschaftlichen Aufstieg schafft. Was ist von einem solchen Buch zu erwarten? "Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. (. . .) Hoch. Bewältigung, Überwindung, et cetera. Alles schon gehört." So fasst es die namenlose Protagonistin zu Beginn von Natasha Browns Debüt "Zusammenkunft" zusammen, und man fühlt sich gleich schon mal ertappt: Ja, genau, das hat man erwartet, so geht die klassische Aufstiegserzählung.
Weil man die aber eben "schon gehört" hat, beginnt Browns schmales Buch am Ende des Aufstiegs; ihre Icherzählerin hat alles erreicht: Sie hat an einer angesehenen Uni studiert, eine gut bezahlte Stelle in einer Bank bekommen, sich eine eigene Wohnung in einem teuren Viertel Londons gekauft und ist mit einem reichen (weißen) Politberater aus der englischen Oberschicht zusammen, dessen Eltern sie nun auch noch zur Hochzeitstagsparty ins Landhaus eingeladen haben: "Ein erzählerischer Höhepunkt in der Geschichte meines sozialen Aufstiegs", kommentiert sie. Und jetzt?
Jetzt geht es einfach weiter. Zumindest scheint es anfangs so, wenn die Protagonistin durch ihren Alltag fortschreitet und man dabei ihren Gedanken zuhört. Sie - ein Kind des Englands von Thatcher und Blair - kann nicht anders, denn alles als Transaktion zu verstehen. Ihre Stelle hat sie gewählt, weil sie "verstanden" habe, was Banken seien: "erbarmungslose, effiziente Geldmaschinen mit dem Nebenprodukt sozialer Mobilität". Ihre Beziehung scheint ihr "ein notwendiger Aspekt des Lebens zu sein. Wie Arbeit. Oder Sport." Und außerdem bürge ihr Freund bei der Betriebsfeier für ihre Anwesenheit, versichere, "dass es sich bei mir um die richtige Art von Diversität handelt. Im Gegenzug verschaffe ich ihm eine gewisse liberale Glaubwürdigkeit." Auch ihre beste Freundin ist ihr Mittel zum Zweck, an ihr studiert sie das "kulturelle Kapital": "Ich lerne, was ich zu tun habe. Wie ich zu leben habe. Was mir gefallen sollte. Ich schaue zu, ich ahme nach."
Aber dann - und hier erfüllt der Text einmal die Erwartungen - tritt etwas Unerwartetes ein. Etwas, was der Protagonistin so eine Art Entscheidung über ihr Leben ermöglicht. Und sie beginnt, dieses ganze Weiter infrage zu stellen: "Diese Anweisungen: hör zu, sei still, mach dies, unterlass das. Wann hört das auf? Und wohin hat es mich gebracht? Mehr und mehr vom immer Gleichen. Ich bin alles, was man mir befohlen hat zu werden. Es reicht nicht."
Es reicht nicht, weil sie in ihrer Umgebung - und das wird nun zunehmend klar - trotz all ihrer Erfolge und all der Anpassungen immer noch zuerst als arme, schwarze Migrantin gilt. Sie kann der Identität nicht entkommen, die ihr von Geburt an zugeschrieben wird, und wird daher niemals ankommen in dieser Gesellschaft, in der ihr aufgrund ihrer Hautfarbe, aufgrund ihrer Geschichte "für immer gesagt wird, dass du verschwinden sollst". Sie kann bloß weiterstrampeln. Aber will sie das?
Je mehr die Erzählerin über diese Frage, über diese Verhältnisse nachdenkt, desto freier wird dieser Roman, das Geschehen transparenter; die Protagonistin gibt Einblick in all die subtilen (und manchmal auch wenig subtilen) Erniedrigungen, die sie tagtäglich erfährt - als Frau, als Schwarze, als Migrantin - und gegen die sie sich nicht wehren kann, weil sie ständig fürchtet, alles zu verlieren, sobald sie "Schwierigkeiten macht". Zum Beispiel im Büro, wenn all die Männer in der Sitzungspause nach der "Frau vom Empfang" Ausschau halten, weil sie die Kaffeemaschine nicht bedienen können, und dann sie fragen, "vielleicht weiß ich es ja. Okay. Ich mache ihnen Kaffee. Wenn sie wollen, gebe ich geschäumte Milch dazu. Die Männer, erleichtert, sagen, oh, danke. Danke."
Oder wenn ihr Freund ihr einen Vortrag darüber hält, wie er "wünschte, er könnte so sein wie ich. Einfach einen seelenlosen Finanzjob in der City annehmen und tonnenweise Kohle machen, jawohl." Aber das politische "Vermächtnis" seiner einflussreichen Familie hindere ihn. "Er verspürt den Zwang, seinen Abdruck auf dieser Welt zu hinterlassen. Das ist ihm in die Wiege gelegt worden. Bei dieser letzten Bemerkung erlaubt er sich ein bitteres Auflachen."
In solchen Szenen entwickelt Natasha Browns Buch seine größte Stärke - knapp und schlaglichtartig, lose verbunden und schnell wechselnd, oftmals eine Lücke lassend, dort, wo man aufschreien will, aber die Protagonistin nicht aufschreien kann. Und doch: Je länger die Erzählerin über ihre Situation und die unerwartete Entscheidungsmöglichkeit nachdenkt, desto mehr lässt die Autorin sie eine eigene Stimme gewinnen; ihre Fragen werden kritischer, ihre Gedanken freier. Und als würde sich die Erzählerin auch sprachlich aus dem Aufstiegshamsterrad befreien, nimmt das Stakkato aus gehetzten und zugleich abgeklärten Sätzen voller indirekter Reden ab, Brown lässt ihre Sprache zunehmend ruhiger, variantenreicher werden, was die Berliner Autorin Jackie Thomae ("Brüder") hervorragend ins Deutsche überträgt. Nun verwandeln sich die Gedanken der Erzählerin manchmal in Gedichte, Twittereinträge werden zitiert und kommentiert, oder der Text bricht mitten auf der Seite ab, es folgen Fußnoten und seitenlange Bildbeschreibungen, ohne dass die dazugehörigen Bilder gezeigt werden müssten - Autorin wie Erzählerin können sich darauf verlassen, dass ihr Publikum im "Westen" sowieso mit diesen Bildern im Kopf aufwächst, Bilder zu Sklaverei, Schwarzen, Frauen. Teilweise gerät die Kritik dann etwas zu theoretisch, die Autorin buchstabiert zu sehr aus, was sie an anderer Stelle nur aufzeigte.
Nichtsdestotrotz liefert Natasha Brown mit ihrem Debüt eine beeindruckende Enttarnung des klassischen Aufstiegsnarrativs, indem sie klarmacht, dass hinter der Arbeit nur weitere Arbeit wartet - es sei denn, man fällt eine radikale Entscheidung wie die Erzählerin am Ende des Buches. Man könnte meinen, Brown verwandle hier in äußerst eleganter Prosa, was Jean Baudrillard theoretisch in seinem Text zum "symbolischen Tausch und dem Tod" festhielt. Dort beschrieb der französische Philosoph die moderne Arbeitskraft nämlich als eine, die von der herrschenden Instanz das Leben geschenkt bekomme und nun - aufgrund dieses größten aller möglichen Geschenke, das eigentlich nur mit dem Tod wiedergutgemacht werden könne - keine andere Wahl habe, als unablässig zu arbeiten, quasi die eigene, stetige Arbeit als "aufgeschobenen Tod" zurückschenken müsse. Weil diese Gegengabe aber immer unzureichend bleibe, sei in der Moderne der allen Gesellschaften zugrunde liegende Kreislauf von Gabe und Gegengabe aufgehoben - zugunsten einer Akkumulation von Macht, Kapital und Herrschaft bei denen, die über die Arbeitskraft bestimmen, während die Arbeitskraft selbst eben nicht bestimmen, sondern nur arbeiten kann.
Den Beginn dieser Verhältnisse sieht Baudrillard in der Sklaverei: Der Sklave sei ursprünglich ein Kriegsgefangener gewesen, der nicht getötet, sondern zur Arbeit "aufbewahrt" (servus) wurde und daher das Geschenk seines Lebens mit unaufhörlicher Arbeit zurückzahlen musste. Und mit Brown sollte man ergänzen: Deshalb wirken diese Mechanismen umso mehr bei denjenigen, die immer noch primär als Nachfahren von Sklaven wahrgenommen werden. Zum Beispiel bei der "schwarzen Migrantin", von der die Gesellschaft erwartet, hart zu arbeiten, sich ihren Platz zu verdienen und damit zu rechtfertigen, dass sie "hier" ist, ja überhaupt existiert - und die für das alles auch noch dankbar sein soll.
Wie unentrinnbar diese Verhältnisse sind, wie sehr sie sich laufend reproduzieren, macht Brown in der Szene zu Beginn des Buches klar: Während die Erzählerin nämlich ihre "Geschichte" in Gedanken so brutal klar zusammenfasst, steht sie vor einer "Versammlung" von Schülerinnen. Sie soll die Mädchen mit der Erzählung ihres Aufstiegs inspirieren, um "ihre Erwartungen in eine gleichförmige und gefällige Form" zu pressen, "Arbeiter aus ihnen" zu machen, "die dankbar und produktiv ihre Rolle in der Gesellschaft akzeptierten". Und zugleich fragt sie sich: "Wie viele Frauen und Mädchen habe ich angelogen?"
"Diese Idee einer jungen schwarzen Frau, dieses Identitäts-Etikett auf einem Buch ist mittlerweile schon fast ein Genre geworden", hat Natasha Brown in einem Interview gesagt: die "junge schwarze Frau", die nach einem Mathematikstudium in Cambridge in der Finanzbranche gearbeitet hat, "es" also ebenso geschafft hat wie ihre Protagonistin. Und offenbar ebenso mit den Erwartungen der Gesellschaft kalkuliert: Sie als noch unbekannte Autorin habe gewusst, "dass mein Buch nach diesem Genre aussehen muss, wenn ich überhaupt etwas publizieren wollte, eben wegen meiner Identität". Zugleich aber habe sie den Text so schreiben wollen, dass er genau solche Konventionen aufdecke.
Beide Kalküle sind aufgegangen: Nicht nur fand Natasha Browns Debüt einen Verlag und wurde im Original völlig zu Recht zum großen Erfolg: Es gelingt Brown darin auch eindrücklich ans Licht zu bringen, was wir im Grunde erwarten. SIMONA PFISTER
Natasha Brown, "Zusammenkunft". Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp, 113 Seiten
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