Besprechung vom 07.09.2023
Diese Uhren zeigen immer fünf vor zwölf
Seit über zwanzig Jahren führt Walter Moers uns in seine Welt Zamonien. Jetzt erscheint mit "Die Insel der tausend Leuchttürme" ein düsteres Seestück.
Schon die Überfahrt ist entsetzlich, die folgenden Tage auf der Insel Eydernorn halten für den Dichter Hildegunst von Mythenmetz befremdliche Erlebnisse bereit - vom superteuren ekelhaften "Dünenwein" über die extra schief gebauten Häuser der Hafenreihe bis zum golfähnlichen Nationalsport "Kraakenfieken" -, und die Insulaner scheinen vor dem Kurgast ein großes Geheimnis zu bewahren. Mythenmetz' Forscherdrang stacheln diese Hindernisse nur an. Die "Insel der tausend Leuchttürme", wie Eydernorn auch genannt wird, nennt zwar nur 111 solcher Wegzeichen ihr eigen, die aber sind, wie der Kurgast erfährt, von je einem Genie bewohnt.
Einige von ihnen wird Mythenmetz während seines Aufenthalts auf Eydernorn besuchen. Jeder Turm hat seine eigene Gestalt: Sie gleichen Vulkanen, künstlichen Ruinen, Uhrtürmen oder auch der Lindwurmfeste, jener kegelförmigen Felsformation, von der Mythenmetz stammt. Einer der ersten Türme, die er besucht, erscheint ihm architektonisch als "ein wahlloser Mischmasch aus primitiver Backsteingotik, kitschigem Barock und Zuckerbäckerstil". Kurz: "Seine Erbauer haben die Detailverliebtheit und die farbenprächtige Ornamentierung derart auf die Spitze getrieben, dass das Auge bei der Betrachtung keinen Halt finden kann." Wenig später allerdings (und "je gelassener ich meinen Blick über die Einzelheiten schweifen ließ") denkt der Besucher anders über den Turm: "Diese Liebe zum Detail! Dieses handwerkliche Können! Entzückend! Und dieser unverhohlene Wunsch, den Betrachter durch Verspieltheit zu unterhalten - was war daran eigentlich so verkehrt?"
Der Autor und Zeichner Walter Moers hat der Beschreibung des von ihm erdachten Kontinents Zamonien, die 1999 mit "Die dreizehneinhalb Leben des Käpt'n Blaubär" ihren bejubelten Anfang nahm, einen weiteren Band hinzugefügt. Eine Fußnote im schmalen, 2018 erschienenen Buch "Weihnachten auf der Lindwurmfeste" bereitete die Moers-Leser auf den neuen Roman vor, der dann aber noch volle fünf Jahre auf sich warten ließ. Denn den Brief, aus dem das Weihnachtsbuch im Wesentlichen besteht, schreibe Mythenmetz "auf der zamonischen Nordmeerinsel Eydernorn, um sich von seinen traumatischen Erlebnissen in den Katakomben von Buchhaim zu erholen", teilt Moers mit, der hier als "Übersetzer" aus dem Zamonischen auftritt, und verspricht: "Mehr dazu im Briefroman 'Die Insel der 1000 Leuchttürme'."
Der ist jetzt erschienen. Er schließt unmittelbar an "Weihnachten" an, indem er auch hier die Form des Briefromans wählt. Wieder sind die Schreiben an den bereits aus "Die Stadt der träumenden Bücher" bekannten Freund Hachmed Ben Kibitzer gerichtet, nur dass hier gleich eine ganze Reihe von Briefen aufeinander folgt, geschrieben jeweils im Abstand von Stunden oder Tagen, so dass die Stärke des Briefromans, die Leser an einem Erkenntnisgewinn des Erzählers teilhaben zu lassen, hier zum Tragen kommt.
Hinzu kommt, dass von einem Briefwechsel keine Rede sein kann - was der Kurgast schreibt, kann aus Witterungsgründen nicht transportiert werden und so auch nicht beantwortet. Mythenmetz schreibt vor sich hin, er kann auf kein Einreden und keine Fragen seines alten Freundes reagieren, aber er hat ihn im Blick, er spricht ihn an und somit auch die Leser, er appelliert an gemeinsame Erfahrungen und geteilte Ansichten, von denen er ausgeht, um das, was ihm hier Neues widerfährt, in diesen Kosmos des Erlebten und Gedachten einzubauen. Das Knirschen dabei ist unüberhörbar, die wachsende Irritation des Fremden auch.
Mythenmetz, ein zamonienweit bekannter Dichter, strandet geradezu auf Eydernorn, bestaunt, was ihm die Insel bietet, dringt von Brief zu Brief tiefer in das ein, was zunächst vor ihm verborgen bleiben sollte, und avanciert schließlich zu einer Art Retter im Kampf gegen das, was die Insel und ihre vielgestalten Bewohner bedroht. Ohne viel Üben gelingen ihm beim Kraakenfieken die tollsten Schläge, immer wieder zeigen ihm die Reaktionen seines Körpers auf die speziellen medizinischen Anwendungen im Kurbetrieb von Eydernorn - das Anagramm ist leicht zu entschlüsseln, auch wenn die zamonische Insel vulkanisch ist und so dem Vorbild kaum ähnelt -, dass er etwas Besonderes, Niegesehenes für die Insulaner darstellt. Und dass sich ihm auch deshalb Türen öffnen, die anderen Gästen verschlossen bleiben.
Moers, der hier ein weiteres Mal als Herausgeber eines - wenn auch einseitigen - Briefgesprächs aus Zamonien fungiert, baut geschickt ein Gewebe aus versteckten Zeichen auf, die im Finale ihre ganze Bedeutung offenbaren. Was davon nur skurril und illustrativ ist und was für die Handlung einen tieferen Sinn besitzt, ist für den Leser erst vom Ende her zu erkennen, und viele der Details, entwickelt aus den Traditionen der maritimen Welt und ihrer literarischen Erzählung, tragen eher zur dichten Atmosphäre bei als zum Handlungsverlauf.
Der Briefschreiber will registrieren, was er sieht, er will dem daheimgebliebenen Freund von den seltsamen Wesen berichten, die ihm begegnen, von den stoischen Küstengnomen, den flugunwilligen Strandlöpern und den fortpflanzungsfreudigen Hummdudeln. Ist es ein Hinweis, dass die Uhren auf Eydernorn gern fünf vor zwölf zeigen, dass die Wolken Formationen bilden, als seien sie aggressive, lebendige Wesen, und dass die Leuchtturmwärter explosive Stoffe in ihren Türmen horten, als bereiteten sie sich auf etwas vor?
Mythenmetz erzählt von all dem ausufernd und bisweilen geschwätzig, jedes Detail findet Berücksichtigung, jede Erläuterung fällt eher breit als kompakt aus. Die Anspielungsdichte ist hoch, die bei Moers üblichen Anagramme von Dichternamen aus unserer Welt begegnen auch hier, und da Mythenmetz als Bestsellerautor auch in Betrachtungen zum Literaturmarkt schwelgt und zum Umgang mit Rezensionen, fällt es nicht schwer, in den Betrachtungen zur ästhetischen Wirkung eines stilistisch überbordenden Leuchtturms auch einen Kommentar zum eigenen literarischen Werk zu erkennen, vielleicht gar als Appell an die Leser des vorliegenden Romans, den Ornamenten so viel Kredit einzuräumen, bis sie in ihrer Funktion deutlich würden, statt sie bei der ersten Begegnung zu verurteilen.
Das Genre des Abenteuer- und Entdeckerromans, inklusive seiner von Poe oder Lovecraft gepflegten gruseligen Variante, steht dabei ebenso Pate wie die humoristische Erzählung vom Fremden, der sich Wunder was auf seine Erfahrungen einbildet. Der über seine Eingebungen begeisterte Mythenmetz erfindet auf Eydernorn den Teebeutel und die Postkarte, er übersteht heldenhaft äußerste Gefahren und taucht sogar in Entrückungen ein, die ihm später bei seinem Rettungswerk helfen. Und er wird bei solchen Gelegenheiten von seinem Schöpfer mit Botschaften konfrontiert, die auf Versöhnung und Achtung vor der Schöpfung abzielen und einen ernsten Ton in Moers' ansonsten spielerische, im Abenteuer schwelgende Erzählung bringen.
Hat sich das Warten gelohnt? Die Leser von Moers' bisherigen Zamonien-Romanen werden auch in diesem alles finden, was sie erwarten, wenngleich das Pendel hier von einer straffen Handlung weg und in Richtung der liebevollen Welterkundung schwingt. Zugleich legt "Die Insel der tausend Leuchttürme" durch eine Reihe von Querverweisen samt Erklärungen dem Novizen in diesem Kosmos nicht allzu viele Hindernisse in den Weg. Dass dieser Ausdauer und guten Willen verlangt, steht auf einem anderen Blatt. TILMAN SPRECKELSEN
Walter Moers: "Die Insel der tausend Leuchttürme". Roman.
Mit Zeichnungen des Autors. Penguin Verlag, München 2023. 656 S., geb.
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