Besprechung vom 05.06.2025
Ihr historischer Drive setzt solche Literatur auf die Überholspur
Unterhaltung als Trumpf: Jean-Baptiste Andrea gewann mit seinem jetzt übersetzten Roman "Was ich von ihr weiß" den wichtigsten französischen Literaturpreis
Ein paar kühle Details vorweg: Der Prix Goncourt, das alljährliche Herbstspektakel der französischen Literatur, lebt meist von Nuancen. Zu Jean-Baptiste Andrea, Gewinner im Jahr 2023, sind drei wichtig: dass der Sieg hart errungen war (vierzehn Abstimmungsrunden); dass "Was ich von ihr weiß" ihn nicht nötig hatte, weil er sich exzellent verkaufte; dass mit ihm erstmals der unabhängige Kleinverlag L'Iconoclaste ausgezeichnet wurde. Man könnte ergänzen, dass der Roman in die Linie gehobener Unterhaltung gehört, die auch Pierre Lemaitre (Goncourt-Gewinner 2013) vertritt - das würde den Abkühlungsbedarf erklären, denn Andrea erzählt fesselnd und hitzig.
Sein Schmöker blickt vom Herbst 1986 aus zurück: Michelangelo Vitaliani - "ein zweiundachtzigjähriges Kind in den Fängen eines Albtraums" - liegt in einem piemontesischen Kloster im Sterben. In der Todesnacht betrachtet er sein Leben, das zwei Faktoren bestimmt haben: die Arbeit als Bildhauer und Viola Orsini. Beide Passionen sind eng verknüpft: Viola steht an Anfang und Ende seiner Künstlerkarriere, die junge Adelige erweckt den tumben, zwergwüchsigen Sohn armer Leute erst zur künstlerischen Existenz: "Viola war im Grunde Futuristin. Mit ihr zu reden war, als würde ich mit Karacho eine Bergstraße runtersausen. Hinterher war ich jedes Mal erschlagen, verstört, überschwänglich, oder eine Mischung aus allem."
Dem Doppelthema entsprechend, entfaltet Andrea eine Doppelvita. Seine Ausbildung erhält der 1904 geborene Halbwaise zunächst von Onkel Alberto - "ein Arschloch", das den Zwölfjährigen vier Jahre lang ausbeutet und triezt. Selten kann Mimo die vom früh verstorbenen Vater erlernten Grundlagen der Bildhauerei einsetzen, etwa bei Arbeiten an der Kirche oder als er Viola ein Denkmal setzt. Künstlerisch entwickelt er sich erst, als er 1920 nach Florenz geht und in einem Atelier arbeitet. Abermals legt ihm Fortuna Steine in den Weg: Neri, ein anderer Lehrling, möchte ihn kleinhalten; es gelingt ihm fast, Mimo aus der Bahn zu werfen. Die harten Lehrjahre enden erst, als Violas Bruder Francesco Mimo in den Sold des Vatikans bringt. Der Hauptteil der Künstlerexistenz steht dann im Zeichen von Kirche und faschistischem Staat: Ihnen dient der Bildhauer ebenso wie der Familie Orsini, die ihn als einen der ihren aufgenommen hat.
Der andere Strang der Vita ist die Freundschaft mit Viola, deren Familie Pietra d'Alba dominiert, jenes Dorf, in dem der junge Mimo für Zio Alberto ackert. Realgeschichtlich ist der Name Orsini einer der großen Roms, Päpste und Kardinäle trugen ihn, aber Andrea erdichtet dem Geschlecht eine alternative Geschichte. Es leidet unter den adelsüblichen Sorgen Macht- und Geldverlust; um so notwendiger wäre eine Allianz. Nur will Viola nicht so recht in die Brautrolle schlüpfen: Schon als Kind möchte das Mädchen, das nichts vergisst, studieren; es steckt den gleichaltrigen Mimo - ihren "kosmischen Zwilling" - mit seinem Wissensdurst an. Violas hochfliegende Träume führen zum frühen Fall, an ihrem sechzehnten Geburtstag testet sie eine selbst gebaute Flugmaschine: "Viola stürzte plötzlich herab, ein herumwirbelnder wütender Ikarus, stieß aus dreißig Meter Höhe hinein in eine Masse von Grün, Orsinigrün, Waldgrün, und verschwand zwischen den Bäumen." Sie übersteht es verkrüppelt. Der Kontrast macht ihr Scheitern umso markanter: Mimos Bärenstatue, sein Geburtstagsgeschenk, läutet den Beginn seiner Laufbahn ein.
Historischen Drive bekommt "Was ich von ihr weiß" durch den Faschismus, der mehr als Hintergrundrauschen ist. Violas Familie ist mit dem Regime verbandelt, Bruder Stefano steigt bei den Schwarzhemden hoch auf, und auch der Kleriker Francesco beschränkt sich nicht auf die geistliche Karriere, in der er es immerhin bis zum Kardinal bringen wird. Die Orsinis stellen die für historische Romane typische zweite Reihe dar: erfundene Figuren, die daher keine Entscheidungsträger sind, denen jedoch Einfluss aufs geschichtliche Geschehen zugeschrieben wird. Sie ziehen Mimo in den Dienst des Duce: "Die Regierung braucht Leute wie Sie. Dem Volk mangelt es an Vorstellungskraft."
Andrea nicht: Ihm gelingt es, originelle Skulpturen so zu imaginieren, dass sie dem Leser schier vor Augen stehen - die wohl größte Qualität des Romans. So heißt es über eine Petrus-Statue: "Statt eines ekstatischen Heiligen, eines wohlgenährten, zu Tode gelangweilten Ruheständlers des Glaubens war mein Petrus einer, der vor Schreck zitterte angesichts seiner Aufgabe und dieses Gegenstandes, der viel zu schwer war für seine Hände, seine alten Hände, die ihn soeben im Stich gelassen hatten. Entsetzt sah er den Schlüssel fallen, vielleicht fragte er sich, ob er zerbrechen würde, ob ein Blitz auf ihn niederginge." Die visuelle Einbildungskraft und der Anklang an Jean-Luc Godards Film "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß" (1967) im (deutschen) Buchtitel verweisen auf die Karriere als Regisseur, die Andrea vor seiner Arbeit als Schriftsteller durchlaufen hat.
Zwei Schwerpunkte setzt "Was ich von ihr weiß". Der eine ist eine rätselhafte Marienstatue: Die Pietà Vitaliani beschäftigt die Mönche bis zum Schluss. Abt Vincenzo, Zeuge des Todeskampfes, betrachtet sie heimlich und sichtet die Akten, welche die verwirrende Sinnlichkeit der trauernden Gottesmutter belegen. Das Publikum litt an "Herzrasen, Schwindel", träumte von ihr, wurde depressiv oder erregt, ja war so erschüttert, dass man sie wegschließen musste. Vitalianis Streben läuft auf dieses eine Werk zu, den Höhe- und Endpunkt seiner Künstlerexistenz. Der andere Schwerpunkt ist das ligurische Dorf Pietra d'Alba, durchzogen vom Neroli-Duft, getaucht in "das alles ergreifende Rosa", dem es seinen Namen ("Morgenstein") verdankt: "Nie wieder habe ich eine Frühlingsmilde erlebt wie in Pietra d'Alba, wenn der Morgen den Tag über blieb. Die Steine des Dorfes griffen nach seinem Rosa und legten es auf alles, was es widerspiegeln konnte, auf Fliesen, Metall, den Glimmerquarz in den felsigen Aufschlüssen, die Wunderquelle, selbst auf die Augen der Bewohner." Pietra d'Alba ist auf löchrigem Fels gebaut, und Steine sind es schließlich, die bei einem Erdbeben 1946 seine Einwohner bedecken und so das Ende herbeiführen.
"Was ich von ihr weiß" handelt von Stein, ist aber nicht widerständig: Es ist ein amüsanter, oft kluger, im guten Sinne des Wortes unterhaltsamer Roman, der seine kleine Welt geschickt und liebevoll entwirft. Es gibt den einen oder anderen Ausrutscher, etwa wenn ein jüdischer Kleinwüchsiger, der von den Faschisten verfolgt wird, sich sogleich als ewigen Juden inszeniert. Die Einstellung Mimos gegenüber Viola und den Schwarzhemden wird nicht immer so präsentiert, dass die Perspektive reflektiert und ausgewogen scheint; schließlich leistet sich der Roman in der zweiten Hälfte manchmal Durchhänger.
Dennoch, von dieser Futuristin und ihrem Quasimodo-Bildhauer lässt man sich gern in eine Welt von Rosa, Grün und Schwarz entführen. NIKLAS BENDER
Jean-Baptiste Andrea: "Was ich von ihr weiß".
Roman.
Aus dem Französischen von Thomas Brovot. Luchterhand Literaturverlag, München 2025.
508 S., geb.
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