Ein Zugwaggon ist ein begrenzter Raum, da sind nicht so viele Leute auf einem Fleck. Man kann Menschen auf kurze Distanz beobachten. Glattauers Protagonist tut dies mit Vorliebe und Kennerblick, zum Beispiel bei Erwachsenen "mit den bösen Blicken, gramgebeutelt bei jedem günstigen Anlass. Als solche prüfen und missbilligen sie jede Art von neuer, in Mode gekommener, verkommener Kindheit. Oft schütteln sie den Kopf und suchen Gleichgesinnte in ihrer Umgebung, die ebenso den Kopf schütteln und genauso denken: Was soll aus diesen Kindern werden? So etwas hätte es früher nie gegeben. Früher hätte man ... Aber das darf man ja heute alles gar nicht mehr laut sagen."
Ein Roman über eine Bahnfahrt hat schon von vornherein eine vorgegebene Struktur, Start und Ziel: die Bahnstrecke mit den geplanten Haltestellen. Kein Roadmovie, sondern eine Train Novel. Auf der Westbahnstrecke zwischen Wien und München eben beispielsweise auch mit so illustren Halten wie Amstetten: "Wir hatten zwei Minuten Stationsaufenthalt am Bahnhof, das hat für Amstetten genügt. Kaum wer ist ausgestiegen, kaum wer ist zugestiegen."
Zu den Requisiten eines solchen Romans gehören unvorhergesehene Ereignisse oder Begegnungen selbstverständlich dazu. In diesem Fall die Begegnung des arrivierten und abgeklärten Schriftstellers mit einer sehr neugierigen Person im selben Abteil. Der Liebesroman-Schriftsteller Eduard Brünhofer ist in einer Schaffenskrise. Jahrelang hat er kein Buch mehr geschrieben. Er ist einfach zu zufrieden mit seinem Leben. Aber der Verlag sitzt ihm im Nacken. Den Vorschuss hat er schon kassiert und in sein Haus in der Steiermark investiert. Jetzt fährt er zu einem Termin im Verlag. Die letzte Frist für die Romanabgabe ist verstrichen. Er würde gern ein Buch über Bahnstationen in Europa schreiben oder einen Essay über Alkohol (positiv gefärbt). Aber der Verlag will das nicht.
Die neugierige Frau ihm gegenüber behauptet, er sehe ihrem alten Englischlehrer ähnlich und fängt so ein Gespräch an. Das wird recht schnell - auch unter dem Einfluss diverser kleiner Bordeaux- und Sektfläschchen aus dem Speisewagen - beinahe inquisitorisch. Brünhofer erzählt viel über die Liebe: in seinen Büchern und in seinem Leben. Am Ende gibt es eine Überraschung. Hinterher hätte man sich denken können, wohin "die Reise geht".
Der Beginn der "Fahrt" und ein paar "Haltestellen" im Buch haben mich sehr amüsiert: die Betrachtungen zu anderen Zugreisenden (etwa zu dem stillen Mithörer, einem sexistischen italienischen Fahrgast mit gespreizten Beinen), die Ausweichstrategien, wenn man nicht ins Gespräch kommen will... Aber oft plätschert die Unterhaltung der beiden zu sanft dahin. Allerweltsaussagen zum Verlust der Leidenschaft in Langzeitbeziehungen, zur Liebe in Zeiten des Kindergroßziehens, Ehrlichkeit in der Ehe, Alkoholkonsum, Hass auf andere Autofahrer.
Das Hörbuch - kaum länger als eine Westbahnfahrt von Wien nach München wird von Christian Berkel gelesen. Der kann das sehr gut. Allerdings hätte mir ein Sprecher mit österreichischem Zungenschlag viel besser gefallen, zumal es zwischendrin auch um die Unterschiede im Sprachgebrauch beider Länder geht. Schlagobers oder Sahne?
Insgesamt etwas enttäuschend.