Besprechung vom 27.09.2025
Zur Mörderin wird diese junge Dame nicht
Zu ihrem neunzigsten Geburtstag veröffentlicht Ingrid Noll ihren Roman "Nachteule"
Wieder hat Ingrid Noll eine Ich-Erzählerin erfunden. Ihre früheste hieß Rosemarie Hirt und war die Heldin des ersten Romans "Der Hahn ist tot", der 1991 erschien. Sie war auch Ingrid Nolls erste Mörderin, mit ihr öffnete sie die Tür für viele Nachfolgerinnen. Das Manuskript hatte sie an den Diogenes Verlag geschickt, der es annahm und dem die Autorin bis heute treu geblieben ist. Erst mit Mitte fünfzig konnte Ingrid Noll das Schreiben ganz zu ihrer Sache machen, nachdem die drei Kinder aus dem Haus waren und sie ihrem Mann, dem Arzt Peter Gullatz, der 2021 starb, in dessen Praxis in Weinheim geholfen hatte. Dort, an der badischen Bergstraße, lebt sie bis heute. Geboren aber wurde Noll 1935 in Nanjing als Tochter eines deutschen Arztes, der mit seiner Familie 1949 nach Deutschland zurückkehrte. Ingrid Noll besuchte ein katholisches Mädchengymnasium in Bad Godesberg und begann dann in Bonn ein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte.
Inzwischen gibt es zwei Dutzend Romane von Ingrid Noll, gern mit zuverlässig rachsüchtigen Mörderinnen jeder Altersklasse in den Hauptrollen, die uneinsichtig sind für jeden Zusammenhang von Schuld und Sühne. Ihre zahlreiche Leserschaft, die sich immer neu unversehens auf der Seite von berechnenden Täterinnen aus Leidenschaft (für Ingrid Noll eben kein Widerspruch!) findet, goutiert seither deren umsichtiges Vorgehen. Nicht wenige ihrer Bücher, die in mehr als zwanzig Sprachen, darunter auch ins Chinesische, übersetzt wurden, avancierten zu Bestsellern. Ihr kriminalistischer Scharfsinn bescherte ihr zudem Ehrungen und Auszeichnungen.
Für den aktuellen Roman "Nachteule" schlüpft Ingrid Noll in die Gedankenwelt der fünfzehn Jahre alten Luisa, die von ihren wohlhabenden, kinderlos gebliebenen Eltern - ansässig vermutlich einmal mehr an der schönen Bergstraße - als Baby aus Peru adoptiert wurde. Es wäre untypisch für Noll, wenn daraus bloß ein harmloser Coming-of-Age-Roman geworden wäre. In mancher Hinsicht ist Luisa eine kleine Wahlverwandte ihrer Vorgängerinnen. Wobei allerdings in einem kurzen "Prolog" klargestellt wird, dass die folgende Geschichte von der inzwischen erwachsenen Luisa selbst zur Verarbeitung ihrer Erinnerungen aufgeschrieben wurde - und sie nicht zur Mörderin geworden ist.
Ihr fremdartiges Aussehen macht Luisa zur Außenseiterin in der Schule. Doch in Auffassungsgabe und Fähigkeit zur Beobachtung, Wortgewandtheit und strategischem Denkvermögen ist sie ihren Altersgenossen weit voraus. Und sie verfügt über eine besondere Eigenschaft, die nicht allgemein bekannt ist: Luisa kann im Dunkeln sehen. Bei ihren abendlichen Gängen in den ans Haus grenzenden Wald, um Tiere zu beobachten, begegnet sie einem jungen Mann, der sich dort versteckt. Er nennt sich Tim, und es ist von vornherein klar, dass er keine reine verirrte Seele ist und Luisa über seine wahre Identität belügt. Dennoch verliebt sie sich immer mehr in ihn und lässt sich als Komplizin von ihm zu gewagten verbotenen Aktionen hinreißen, bei denen Tim sich Luisas ungewöhnliche Nachtsicht zunutze macht. Dafür muss sie auch ihre Eltern mit kühlem Kalkül hintergehen. Als im Nachbarhaus ein Mord geschieht, entwickelt sich eine unaufhaltsame Dynamik, die die junge Frau in immer neue Konflikte bringt. Als sie dann noch zufällig mitbekommt, dass ihr Vater eine Geliebte hat, gerät die bis dahin ziemlich heile häusliche Welt ins Wanken.
Wie gewohnt bei Ingrid Noll, kommt auch "Nachteule" zunächst auf Samtpfoten daher. Über dreihundert Seiten hinweg baut sich dann ein Spannungsbogen auf, dem sich nicht entkommen lässt. Der jugendlichen Protagonistin bleibt keine denkbare Prüfung erspart bei ihren Versuchen, Tim zu helfen, obwohl sie ihn zunehmend durchschaut. Dabei ähnelt das minutiös geschilderte Vorgehen Luisas ebenjener Umsicht und Durchdachtheit der mordenden älteren Geschlechtsgenossinnen aus anderen Noll-Romanen - wenngleich ohne deren notorische kriminelle Energie. Bis hin zum unvorhersehbaren, deshalb umso dramatischeren Finale, das von Luisas Zuneigung zu Tim getragen ist. Sie trifft eine Entscheidung, schwerwiegend genug, um sie für ihr weiteres Leben zu prägen.
Dass Ingrid Noll dieser schwierige Weg der "Nachteule" Luisa gelingt, verdankt sich der Lebensklugheit dieser Autorin. Dabei setzt sie diesmal ihr viel gerühmtes Einfühlungsvermögen ins Allzumenschliche - das zum Vergnügen des Publikums so oft von Skrupeln und Reue freien Verbrecherinnen galt - für ihre junge Heldin ein. Wenn sie diese im Stockdunkeln sehen lässt (in der Realität eine Unmöglichkeit für Menschen), ist das Metapher ihres Besondersseins. Entsprechend kann Luisa in ihrem Protokoll, trotz aller ernsthaften Tragweite der Geschehnisse, auch hinter die Fassade gutbürgerlicher Verhaltensmuster blicken - hellsichtig eben. Und ausgestattet mit feinem Sinn für Ironie als einem Geschenk ihrer Autorin, die doch das Register der Bissigkeit bis zum Sarkasmus beherrscht. Wofür wir sie weiterhin unbedingt hoch schätzen.
Ingrid Noll, die am kommenden Montag ihren neunzigsten Geburtstag feiern kann, gratulieren wir herzlich. Und wir verbinden das mit dem Wunsch, dass sie, die Grande Dame des Kriminalromans, noch lange nicht fertig habe. ROSE-MARIA GROPP
Ingrid Noll: "Nachteule". Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2025. 301 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.