
Besprechung vom 15.10.2025
Schulungen des Blicks
Eine Sammlung von Texten Karl Schlögels
Karl Schlögel sprach 2016 von dem "Schock", der ihn getroffen habe, als dasselbe Russland, dessen Städte und Erfahrungswelten er wie kein Zweiter beschrieben hat, sich - scheinbar aus dem Nichts - die Krim einverleibte und im Osten der Ukraine die Vorform jenes Krieges begann, der seit Februar 2022 in ganzer Grausamkeit wütet. Er sei "auf diesen Augenblick, auf die Überrumpelung nicht vorbereitet" gewesen, sie habe ihn "gedanklich aus der Bahn geworfen".
Am Sonntag wird der bereits vielfach ausgezeichnete Osteuropahistoriker mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Wer in sein Denken hineinfinden will, oder besser gesagt in seine Weise zu sehen, zu kartieren, abzutragen und zu collagieren, der kann mit dem nun unter dem Titel "Auf der Sandbank der Zeit" erschienenen Band einen ersten Schritt tun - jedoch nur auf die Gefahr hin, auch viele weitere tun zu wollen. Auf nicht einmal hundertachtzig Seiten beobachtet man Schlögel dabei, wie er den Schock, der zugleich ein Russland- und ein Ukraineschock war, verarbeitet, sich von ihm inspirieren lässt. Statt sich seinem akademischen Spätwerk zu widmen, ging er, wie er selbst schreibt, "noch einmal in die Schule", nach "Kyjiw, Charkiw, Donezk, Mariupol, Odessa", um ein Land kennenzulernen, das bisher auf der mentalen Landkarte der Westeuropäer (vielleicht noch immer?) kaum vorkam, auch auf seiner eigenen nicht.
Beinahe muss man die aufrüttelnden Aufsätze und Reden überspringen, die sich an die in den deutschen "Russland-Komplex" verwickelte Öffentlichkeit richten und die ersten Kapitel ausmachen, um dorthin zu gelangen, wo Schlögels eigentliche Kraft liegt: in der Fähigkeit, Städte, Generationen, Verkehrsnetze, Erinnerungslandschaften zu lesen und ihren Verbindungen nachzugehen - vor allem jenen, die bisher unter tradierter Ignoranz verborgen lagen. Es geht um die "Kernzone des 'Jahrhunderts der Extreme'", die sich zwischen Berlin und Moskau aufspannt, und darum, was es bedeutet, dass der Krieg dorthin zurückgekehrt ist. Das Buch sammelt Kapitel, Aufsätze und Reden, die Schlögel zwischen 2003 und 2025 veröffentlicht und gehalten hat. Wiederholungen sind in solchen Fällen unvermeidbar. Lehrreich sind vor allem die Studien zur Stadt Charkiw, deren "historische Substanz" durch den russischen Krieg "in einem Maße beschädigt" wurde, "wie es zuvor nur der deutschen Wehrmacht gelungen war", außerdem zur Form und Narrativität von Geschichtsschreibung und, natürlich, zu Russland selbst, vor allem dem "Putinismus" und warum diese Art des Herrschens so schwer auf den Begriff zu bringen ist.
"Autokratie" verfehle die modernen und postmodernen Aspekte von Putins Herrschaft, "Kleptokratie" übersehe die kulturelle Hegemonie, das Mitmachen der Bevölkerung, "Neo-Totalitarismus" erinnere zu sehr an eine durchformierte Gesellschaft und an die extremistischen Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Schlögel ringt um das richtige Wort und die Ansicht der Sache. Wie wunderbar, ihm dabei zuzusehen. OLIVER WEBER
Karl Schlögel: "Auf der Sandbank der Zeit". Der Historiker als Chronist der Gegenwart.
Carl Hanser Verlag, München 2025. 176 S., geb.
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