
Der Weltbestseller aus Korea - über 2 Millionen verkaufte Exemplare weltweit.
Cho Nam-Joo hat mit ihrem Roman einen internationalen Bestseller geschrieben. Ihre minimalistische und doch messerscharfe Prosa hat nicht nur viele Leserinnen weltweit begeistert, sondern auch Massenproteste in Korea ausgelöst. In einer kleinen Wohnung am Rande der Metropole Seoul lebt Kim Jiyoung. Die Mittdreißigerin hat erst kürzlich ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Baby zu kümmern - wie es von koreanischen Frauen erwartet wird. Doch schon bald zeigt sie seltsame Symptome: Jiyoungs Persönlichkeit scheint sich aufzuspalten, denn die schlüpft in die Rollen ihr bekannter Frauen. Als die Psychose sich verschlimmert, schickt sie ihr unglücklicher Ehemann zu einem Psychiater. Nüchtern erzählt eben dieser Psychiater Jiyoungs Leben nach, ein Leben bestimmt von Frustration und Unterwerfung. Ihr Verhalten wird stets von den männlichen Figuren um sie herum überwacht - von Grundschullehrern, die strenge Uniformen für Mädchen durchsetzen; von Arbeitskollegen, die eine versteckte Kamera in der Damentoilette installieren und die Fotos ins Internet stellen. In den Augen ihres Vaters ist es Jiyoung's Schuld, dass Männer sie spät in der Nacht belästigen; in den Augen ihres Mannes ist es Jiyoung's Pflicht, ihre Karriere aufzugeben, um sich um ihn und ihr Kind zu kümmern. »Kim Jiyoung, geboren 1982« zeigt das schmerzhaft gewöhnliche Leben einer Frau in Korea und gleichzeitig deckt es eine Alltagsmisogynie auf, die jeder Frau - egal, wo auf der Welt - nur allzu bekannt vorkommt.
Besprechung vom 14.03.2021
Frau ohne sonstige Eigenschaften
Cho Nam-Joo erzählt vom koreanischen #MeToo
Es macht keinen Spaß, dieses Buch zu lesen. Es deprimiert und nervt und macht wütend auf die ungerechte Welt, die darin beschrieben wird, aber auch auf das Buch selbst, weil immer schon vorher klar ist, dass gleich wieder etwas Schlechtes passieren wird, und dann ist das Schlechte noch nicht mal besonders gut beschrieben. Dass "Kim Jiyoung, geboren 1982" trotzdem ein zwei Millionen Mal verkaufter Weltbestseller geworden ist, kann man, erstens, so erklären: Alles Absicht, der Text will deprimieren, nerven und wütend machen, und auf subtile literarische Mittel kommt es ihm dabei offenbar nicht an. Und zweitens hat die Autorin Cho Nam-Joo ihr Buch über Alltagssexismus in Südkorea zum genau richtigen Zeitpunkt veröffentlicht, indem sie die #MeToo-Bewegung, die auch in Korea Zehntausende auf die Straße trieb, in gewisser Weise vorwegnahm. Ende 2016 ist "Kim Jiyoung, geboren 1982" erschienen. Viele Frauen beriefen sich auf dieses Buch. Der Präsident bekam ein Exemplar geschenkt, K-Pop-Stars empfahlen es, und angeblich zerbrachen nicht wenige Beziehungen an unterschiedlichen Meinungen über die Lebensgeschichte dieser Kim Jiyoung.
Die Hauptfigur des Buchs, das jetzt auf Deutsch erscheint, ist die durchschnittliche Jederfrau, zu Beginn 33 Jahre alt, "34 nach koreanischer Zählung, denn in Korea gilt ein Kind in seinem Geburtsjahr bereits als einjährig und wird am darauffolgenden Neujahrstag zwei". Sie hat einen Mann, eine Tochter und seit kurzem seltsame Anfälle. Immer wieder schlüpft sie in die Rolle anderer Frauen. Sie spricht wie ihre Mutter, wird eine verstorbene Freundin. Als sie sich deshalb vor den Schwiegereltern danebenbenimmt (also, ehrlich sagt, dass sie Feiertage mit dem ganzen Gekoche für die Familie anstrengend findet), bringt sie ihr Ehemann zu einem Therapeuten, und der erzählt dann ihre Geschichte, weil sie ihm prototypisch für die Diskriminierung koreanischer Frauen erscheint.
Diese Konstruktion erklärt, weshalb sich die zweihundert Seiten weniger wie ein Roman übers Leben Kim Jiyoungs als wie eine Fallstudie über Sexismus lesen. Mitten im Absatz belegen Studien den gender pay gap, Quellennachweise in den Fußnoten. Ganze Lebensphasen samt dramatischer Ereignisse passen in zwei Sätze: "Jiyoung und Daehyon lernten sich auf Sungyons Hochzeit kennen. Bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb die Freundin an einer Fruchtwasserembolie." Dass die Protagonistin so passiv wirkt und der Text so wenig sinnlich ist und haufenweise Floskeln enthält, liegt an diesem Protokollformat im Berichtston. Der Therapeut ist kein Schriftsteller, und nicht mal er maßt es sich an, immer das Innenleben der Protagonistin zu kennen.
Diese Therapeutenfigur lässt sich als Verkörperung der männlich-dominanten Gesellschaft lesen. Er ist kein Monster, zumindest will er auf die Missstände aufmerksam machen, die viele Frauen wie seine Patientin erleben, und man kann sagen, er verschafft ihrer Geschichte Gehör. Treffender wäre es aber zu sagen, dass der Mann ihr nicht mal eine Stimme lässt. Kim Jiyoung kann sich nicht dazu ermächtigen, von ihrer Unterdrückung selbst zu erzählen, sogar diese Emanzipation bleibt ihr versagt.
Chronologisch erzählt der Therapeut das Leben Kim Jiyoungs, von der Geburt 1982, als das Wort "Tochter" für eine schwangere Koreanerin noch eine Diagnose war, bis zu ihrem Zusammenbruch heute. Man lernt ein Korea kennen, dass trotz liberal-fortschrittlichen Spitzenimages (Samsung, K-Pop, Filme wie der Oscar-Gewinner "Parasite") sehr weit entfernt von Schweden bleibt. So koreatypisch die konservative Leistungsgesellschaft sein mag, die beschrieben wird - die Demütigungen, Belästigungen und Ungerechtigkeiten, die sich hinter dem bürokratischen Begriff "sexuelle Diskriminierung" verbergen, sind universal. Je länger die Aufzählung wird und je tiefer die Frustration Kim Jiyoung in die Knie zwingt, desto mehr zermürbt es einen beim Lesen.
Von den drei Geschwistern bekommt der kleine Bruder das Einzelzimmer, nicht sie oder ihre Schwester. Dass ein Mitschüler sie mobbt, erklärt ihr der Lehrer damit, dass der Mitschüler sie neckt, weil er sie mag. Als Jiyoung das erste Mal Menstruationsschmerzen hat, sagt ihre ältere Schwester: "Was ist das denn für eine Welt, in der Krebs geheilt wird und Herzen transplantiert werden, aber ausgerechnet dafür gibt es keine richtige Pille?"
Jiyoung wird im Bus belästigt, und der Vater fragt, warum sie so kurze Röcke trage. An der Uni stalkt sie ihr Exfreund, und dass es einen Exfreund gibt, kommentiert ein Kommilitone so: "Wer will schon einen Kaugummi, den ein anderer ausgespuckt hat?" Im Unternehmen, in dem sie anfängt, gibt es Mutterschaftsurlaub bloß in der Theorie, aber eine Kamera auf der Damentoilette. Und so weiter.
Nach Erscheinen des Buchs in Korea tauchte eine Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung von "Kim Ji-Hoon, geboren 1990" auf, einer Gegendarstellung, die "umgekehrte Diskriminierung" von Männern beschreiben solle. Einer Frau könne ja wohl nicht 34 Jahre lang immer nur das Schlimmste passieren, und wenn doch, habe sie es vielleicht nicht anders verdient, so die Kritik, die damit bewies, dass "Kim Jiyoung, geboren 1982" ein wichtiges Buch ist. Denn, im Gegenteil, der Protagonistin widerfährt nie das Allerschlimmste - kein prügelnder Ehemann oder eine Vergewaltigung -, sondern "nur" der nie endende sexistische Stumpfsinn des Alltags, den offenbar manche, nicht bloß in Korea, schon für eine unrealistische Horrorgeschichte halten.
Dass man diese Kim Jiyoung wirklich irgendwann schütteln will und anschreien, sie möge bitte endlich gegen die Verhältnisse aufbegehren, das ist noch so ein schlauer Trick des Romans. Eigentlich müsste man natürlich die Verhältnisse anschreien. Aber so, wie die Protagonistin nichts sagt, als junge Geschäftsmänner sie als "Schmarotzer" beleidigen, und sich selbst die Schuld daran gibt, seit der Schwangerschaft auf Kosten ihres Manns zu leben, so verleitet einen die Autorin Cho Nam-Joo dazu, dem Individuum die Schuld zu geben, nicht der Gesellschaft.
Im Jahr 2016 bricht der Bericht des Therapeuten plötzlich ab. Er hat gerade noch Zeit zu erwähnen, dass eine Kollegin gekündigt habe, weil sie schwanger sei und sich schonen wolle - bedauerlich, niemand wusste so gut wie sie, wie der Therapeut seinen Kaffee am liebsten trinkt. Und damit endet Kim Jiyoungs Lebensgeschichte. Die minimale Hoffnung ist, dass sie jemand anders weitererzählt.
FLORENTIN SCHUMACHER
Cho Nam-Joo, "Kim Jiyoung, geboren 1982". Übersetzt von Ki-Hyang Lee. Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.