
Eine revolutionäre Erfindung - und ihre Zukunft
Tim Berners-Lee ist der womöglich einflussreichste Erfinder der modernen Welt. Geboren im selben Jahr wie Bill Gates und Steve Jobs, teilte er seine Erfindung, das World Wide Web, ohne sie kommerziell zu verwerten. Auch deshalb konnte sich diese Technologie so schnell über den gesamten Globus verbreiten. Mit ihr wurde die Menschheit zur ersten digitalen Spezies: Hier, im Web, vernetzen wir uns, hier leben, arbeiten, streiten und träumen wir.
In seinem Buch erzählt Berners-Lee, wie er als Ingenieur am Schweizer Forschungszentrum CERN auf die Idee kam, das damals noch junge Internet mithilfe von standardisierten Protokollen und Hypertext-Links in eine offene Plattform für alle und jeden zu verwandeln. Er läutete damit ein neues Zeitalter der Kreativität und Kollaboration ein. Zugleich aber wurden Kräfte entfesselt, die nichts mit der ursprünglichen Idee des Web gemein hatten: Staaten und Konzerne machten sich daran, das Internet für Macht- und Profitzwecke zu instrumentalisieren.
Wann und warum geriet die Utopie, die hinter dem Web stand, ins Wanken? Und wie können wir diese Utopie nicht nur wiederbeleben, sondern auch Wirklichkeit werden lassen? Mit der Ankunft von KI stehen wir an der nächsten Schwelle der Entwicklung, entscheidende Weichen müssen gestellt werden. Tim Berners-Lee zeigt, worauf es dabei ankommt - und warum es sich mehr denn je lohnt, für eine freie und selbstbestimmte Zukunft im Web zu kämpfen.
Besprechung vom 11.10.2025
Er war lange ein geschickter Dompteur von großen Techkonzernen
Gegen den Überwachungskapitalismus: Der Erfinder des World Wide Web Tim Berners-Lee hält in seiner Autobiographie unerschütterlich am Techno-Optimismus fest
Für den britischen Physiker Tim Berners-Lee, der von 1989 an die wesentlichen Komponenten des World Wide Web schrieb, liegt die Pionierzeit dieses Systems nun ein halbes Leben zurück. In seiner Autobiographie "This Is for Everyone" zieht er Bilanz seiner bisherigen Arbeit und bietet Einblicke in seinen privaten und beruflichen Werdegang.
Berners-Lee ist in einer Akademikerfamilie aufgewachsen. Seine Eltern hatten beide Mathematik studiert und arbeiteten bei Ferranti, einem Pionierunternehmen der britischen Rechentechnik; noch heute ist ihr Sohn stolz darauf, dass sie dort Alan Turing persönlich kennenlernen durften. Er schildert, wie er neben Schule und Studium immer an verschiedenster Hardware herumbastelte und in die Computerbranche gewissermaßen hineinwuchs. In Oxford studierte er Physik, machte seinen Abschluss 1976, seinen ersten Brotjob fand er beim englischen Elektronikkonzern Plessey in Poole.
1980 arbeitete Berners-Lee erstmals am europäischen Forschungszentrum CERN in Genf. Die dort gebräuchlichen Computersysteme waren untereinander inkompatible Insellösungen, und Berners-Lee fiel auf, dass das Wissen der verschiedenen Stellen innerhalb des Forschungszentrums nur unzureichend sinnvoll zusammengebracht werden konnte. Er schrieb ein Programm, das wir heute wohl als eine Art Wiki bezeichnen würden. Es sollte ermöglichen, Fakten und Notizen auf einem einzelnen Rechner einfach zu speichern und miteinander zu vernetzen, und wurde von ihm nach einem viktorianischen Nachschlagewerk aus seinem Elternhaushalt benannt: "Enquire Within Upon Everything", kurz "Enquire". Das Programm ist heute verloren, gilt aber als wichtiger Ideengeber für das Web.
Bei einem weiteren Aufenthalt als Programmierer am CERN Ende der Achtzigerjahre musste Berners-Lee feststellen, dass die von ihm festgestellten Probleme trotz schneller Fortschritte in der Computer- und Netzwerktechnik immer noch ungelöst waren. Gedeckt von seinen Chefs schaffte er sich einen Rechner von Steve Jobs' damaliger Firma Next an und schrieb die grundlegenden Konzepte sowie die ersten konkreten Anwendungen - Server und Browser/Editor - seines Hypertextsystems World Wide Web. Die grundlegenden Ideen für ein Hypertext-System existierten bereits, ebenso das Internet-Kommunikationsprotokoll TCP/IP, aber erst Berners-Lee gelang mit dem Web eine ebenso einfache wie elegante Synthese all dieser Elemente.
Auch wenn Onlinekommunikation Ende der Achtzigerjahre nichts Neues war - es gab das Usenet oder Mailboxen -, ist es heute schwer, sich den Moment vorzustellen, in dem man seine erste einfache Webpage im Editor schrieb, sie auf das Verzeichnis am Server hochlud und das Werk nun im ganzen Internet zugänglich war. Weil Berners-Lee das WWW lizenzfrei und unglaublich simpel gestaltet hatte, war es ein schnell erlernbares und weit verbreitetes Werkzeug individueller Ermächtigung. Diese Absicht zur Stärkung des Individuums durch Technologie zieht sich stringent durch den vorliegenden Text. Das Web, so sein Erfinder, soll für alle da sein. Als abschreckendes historisches Beispiel zitiert er das Schicksal des Hypertextsystems Gopher, eines zunächst sehr erfolgreichen Konkurrenten des WWW, das seit 1991 an der University of Minnesota entwickelt worden war: "Im Februar 1993 machte die University of Minnesota einen fatalen Fehler: Sie gab bekannt, dass sie sich das Recht vorbehalte, von Gopher-Lizenznehmern Gebühren zu verlangen." In der bereits damals von langwierigen Patentstreitigkeiten geprägten IT-Branche reichte diese Ankündigung, um Gopher fallen zu lassen und fortan auf das WWW zu setzen.
Die Erfindung des WWW war eine Sache, aber seinen Ritterschlag durch Queen Elizabeth 2004 könnte sich Sir Tim vor allem mit seiner geduldigen und zähen Gremienarbeit verdient haben, mit der er es sehr lange schaffte, das Web so anbieterneutral und offen wie möglich zu halten. Gerade Open-Source-Innovationen, so zeigt seine Geschichte eindringlich, müssen nicht nur gemacht und verbreitet, sondern auch verteidigt werden. Aufbauend auf bereits vorhandenen meritokratischen Konsensfindungsstrukturen des Internets erwies sich Berners-Lee lange Zeit als geschickter Dompteur von Großkonzernen wie Microsoft, die schon in den Neunzigern darauf aus waren, das Web zu monopolisieren. Speziell auf Netscape-Mitgründer Marc Andreessen, der damals am National Center for Supercomputing Applications (NCSA) in Illinois den Webbrowser Mosaic entwickelte, ist Berners-Lee auch heute noch nicht gut zu sprechen. Zu gerne hätten die Akteure am NCSA wohl das Web zur eigenen Erfindung erklärt.
Der Abschnitt über Berners-Lees Zeit im Web-Standardisierungsgremium W3C deutet viele Konflikte an, über die es sich sehr lohnen würde, ein eigenes Buch zu schreiben, das sich näher mit den ebenso langweiligen wie zukunftsprägenden Fragen der Standardisierungs- und Technopolitik befasst, als es der vorliegende Text tut. Wer sich mit dem Web länger beschäftigt hat, kennt die verschiedenen Browser-"Kriege" und ihre Akteure.
Insgesamt sieht Tim Berners-Lee das Web auch nach 35 Jahren als Erfolgsgeschichte, es habe Millionen Arbeitsplätze geschaffen und die Entstehung von Konzernen wie Amazon ermöglicht. Als Probleme sieht er etwa die Datensammelwut von Werbetreibenden sowie süchtig machende Social-Media-Plattformen. Der mittlerweile abgeschwächte Blockchain-Boom ärgerte ihn auch deshalb, weil dessen Akteure ihre Produkte mit dem Stichwort "Web 3.0" bewarben - für Berners-Lee haben Kryptowährungen und NFT nichts mit dem Grundgedanken des WWW zu tun. Künstliche Intelligenz (KI) sieht er hingegen als große Chance und potentielle Fortführung seiner eigenen Bemühungen um ein semantisches Web, in dem Wissen einfach verknüpft und erschlossen werden kann. Der Web-Erfinder betont aber auch, dass Urheber von den KI-Konzernen für die Verwendung von geschütztem Material angemessen vergütet werden sollten. Dass die Trainer von Large Language Models beim Zugriff auf Texte und Bilder im Web nicht eben zimperlich sind und auch Standards zum Schutz vor Kopier-Bots ignorieren, scheint Berners-Lee eher peinlich zu sein.
An zeitgenössischen Plattformen sieht Berners-Lee die Wikipedia und das Fediverse, darin speziell das in Deutschland von Eugen Rochko und seinem Team entwickelte verteilte Microblogging-System Mastodon am nächsten an seiner ursprünglichen Vision für das Web. Dass auf Facebook, Tiktok oder X die Auslegeordnung von Algorithmen vorgenommen wird, die die Verweildauer ihrer User mit möglichst aggressivem und extremistischem Material verlängern wollen, hält er für demokratiepolitisch gefährlich. Nachdem er 1990 sein System für den Austausch von wissenschaftlichen Informationen geschrieben hatte, war noch nicht absehbar, dass sich 35 Jahre später das Führungspersonal von Atommächten über webbasierte Krawallplattformen öffentlich beflegeln würde.
Als Antwort auf die Malaise des Überwachungskapitalismus arbeitet Berners-Lee an der Entwicklung eines Open-Source-Systems namens Solid mit, das den Usern die Kontrolle über die eigenen Daten zurückgeben soll. Informationen werden dabei dezentral in verschlüsselten Datenclustern, sogenannten Pods, gespeichert. Berners-Lee hat zur Verbreitung von Solid ein eigenes Unternehmen namens Inrupt mitgegründet. Die Vorstellung, dass es ausreichend viele User geben könnte, die das technische Wissen mitbringen, ihre eigenen Daten zu aggregieren und dann auch noch vor Angreifern schützen zu können, ist eins der extremeren Beispiele für den unerschütterlichen Techno-Optimismus des Web-Erfinders, der überall in diesem Buch durchscheint.
"This Is for Everyone" bietet fachfremden Interessierten einen Einblick ins Leben und die wichtigsten Stationen eines der wichtigsten Akteure der Internet-Geschichte, ohne Vorkenntnisse in Jargon oder Technologie vorauszusetzen. Wer mehr und genauere Informationen über technische und politische Detailfragen der Web-Historie aus Sicht des Erfinders erwartet, wird dagegen eher enttäuscht sein. GÜNTER HACK
Tim Berners-Lee: "This is for Everyone". Die unvollendete Geschichte des World Wide Web.
Aus dem Englischen von Karsten Petersen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 384 S., Abb., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.