Der große Roman von Arno Frank über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten
»Er dokumentiert in glänzend literarischem Stil den schleichenden Einfluss der Faschisten. Was trügerisch beschaulich beginnt, führt in den Abgrund. «Bernd Noack, Nürnberger Nachrichten
Nach der Machtergreifung ist in Ginsterburg ein neuer Alltag eingekehrt. Manche Einwohner der kleinen Stadt leiden, andere profitieren - und die meisten versuchen, sich mit der neuen Ordnung zu arrangieren. Allmählich aber öffnet sich unter dem Alltag der Abgrund. Ein feinfühliger und atmosphärischer Roman über Liebe, Familie, Freundschaft - und persönliche Verstrickungen in den Jahren 1935 bis 1945.
Lothar träumt vom Fliegen. Eben noch ein kleiner Junge, kann seine Mutter Merle nur ohnmächtig zusehen, wie sein Traum von der Freiheit ihren Sohn in die Arme der Hitlerjugend treibt. Eine neue Zeit ist angebrochen. So sehr Merle ihr auch misstraut, kann sie ihr doch nicht entkommen - nicht in ihrer Buchhandlung, nicht in den Gesprächen mit Eugen, dem Feuilletonisten der Lokalzeitung von Ginsterburg. Doch während die einen verstummen und einige sich langsam korrumpieren lassen, verstehen andere es, die neue Machtverteilung zu ihren Gunsten zu nutzen. Blumenhändler Gürckel schwingt sich zum Kreisleiter auf, Fabrikant Jungheinrich macht beste Geschäfte, und auch der Arzt Hansemann wittert völlig neue Möglichkeiten. Im Lichtspielhaus spielt weiter Heinz Rühmann, über den Nürburgring schießen Runde für Runde die Silberpfeile. Doch der Krieg, an fernen Fronten geschlagen, ist bald auch im Mikrokosmos der Stadt zu spüren, in den erschütterten Beziehungen und Seelen der Menschen. Und über allem schwebt ein britischer Bomberpilot, der sich dem einstmals beschaulichen Ginsterburg unaufhaltsam nähert.
Besprechung vom 25.06.2025
Vergangenes ist nicht auszulagern
Historischer Roman I: Arno Frank versteht es ausgezeichnet, in seinem neuen Buch "Ginsterburg" die Atmosphäre einer typischen deutschen Stadt zu schildern, die zwischen 1935 und 1945 Richtung Abgrund trudelt.
Eine "verschlafene Freundlichkeit" entdeckt die Zirkusartistin Lola während ihres Gastspiels im Städtchen Ginsterburg. Hier gibt es eine verschachtelte Altstadt mit schiefergedeckten Fachwerkhäusern, Reste einer Stadtmauer mit Zwillingstürmen über dem Stadttor, ein steinernes Viadukt, einen Bahnhof, eine Straßenbahn, den Binnenhafen, Museum, Stadttheater, Lichtspielhaus, ein Kloster der Zisterzienserinnen am Flussufer, Geschäfte, Konditorei, den Roten Storch mit Wirtin Roswitha am Marktplatz, das Sportfeld des wahrscheinlich unterklassigen TuS Ginsterburg und um das verfallende Jagdschloss den leider verwilderten ältesten Englischen Garten Deutschlands. Ginsterburg ist eine fiktive Stadt, altfränkisch provinziell und in ihrem Wesen nicht anders als vergleichbar große Städte.
"Städte wie Ginsterburg sind das Langzeitgedächtnis unserer Kultur", lässt Arno Frank in seinem dritten Roman den freien Journalisten Theodor Mohelsky sagen und dem Buch von Berlin aus eine Richtung geben. Theo hatte unter anderem für die "Weltbühne" des Carl von Ossietzky geschrieben. 1935 schon bekommt er keine Aufträge mehr, später wird er von den Ledermänteln abgeholt, weil er Jude ist. Daraufhin muss seine Frau Uta, die nicht zufällig wie die schönste Frau des Mittelalters im Naumburger Dom heißt, wider Willen die Hauptstadt verlassen und zurück zu ihrer älteren Schwester Ursel nach Ginsterburg. Uta hat in Dessau Architektur und Kunstgeschichte studiert, wo sie mit dem Wörlitzer Park einen weltkulturellen Großort kennengelernt hat, als dessen sehr viel kleineren Bruder man sich den schäbigen Ginsterburger Park vorstellen darf.
Glücklich wird Uta nicht werden in Ginsterburg, wohin sie unfreiwillig dem Ruf der Heimat gefolgt ist. Eine sie erfüllende Aufgabe allerdings wird sie dort finden, wo man sie hinter bald gar nicht mehr vorgehaltener Hand "Judenflittchen" nennt und an den Rand drängt. In jenem Jahr 1935 ist ihr Schwager Eugen von Wieland 47. Der studierte Historiker wird vom Redakteur des Ginsterburger Anzeigers bald zu dessen Schriftleiter aufsteigen, weil sich sein jüdischer Vorgänger aus dem Fenster gestürzt hat. Eugen hat seine Träume vom Schreiben für "Fackel" oder "Weltbühne" lange begraben und wirft seine redaktionellen Perlen nun vor die Ginsterburger Säue. Als "plauderlustige Petitessen", gut genug für die bürgerliche Provinzpresse, hatte Ossietzky seine Produkte abgefertigt in einem fünfminütigen Ablehnungsgespräch, zu dem Eugen aufgeregt wie ein Kind nach Berlin gefahren war.
In ebendieser Provinz macht Eugen Karriere, weil er das Lavieren gelernt hat und in die NSDAP eintrat, um Chefredakteur und Besitzer der verwaisten Vorgängervilla zu werden. Lange her, dass er Goebbels "Humpelstilzchen" nannte. Bald vernimmt auch er einen Ruf der Heimat und rückt, obwohl eigentlich unabkömmlich, freiwillig ein, bis eine wieder erwachte Blessur aus dem Ersten Weltkrieg ihn zurück an den Schreibtisch bringt, zur Familie und bald auch zur Geliebten, der Buchhändlerin Merle Sieber. Die Witwe eines Kommunisten ist die ideale Leserin für Eugens umfangreiche Stadtgeschichte, die er schließlich als Privatdruck in kleiner Auflage binden lassen wird. Und irgendwann später ist Merle viel mehr für ihn, zumal Eugens Tochter Gesine und Merles Sohn Lothar immer heftiger techtelmechteln. Dieser Lothar Sieber ist nach einer realen Figur gleichen Namens gezeichnet, einem Flugfanatiker und Draufgänger der deutschen Luftwaffe, der kurz vor Toresschluss zweiundzwanzigjährig draufging als Testpilot eines senkrecht startenden Raketenflugzeugs der Firma Bachem - nach fünfzehn Probeflügen mit Strohpuppen.
Der Publizist und freie Journalist Arno Frank versteht es ausgezeichnet, die Atmosphäre einer Stadt zu schildern und zu entwickeln, wie sie immer weiter in Richtung Abgrund trudelt. In drei großen und großartigen Abschnitten - 1935, 1940 und 1945 - lässt er sein facettenreiches und gar nicht nach einem einfachen Gut-Böse-Schema entworfenes Figurenensemble zueinander in Beziehung treten, wozu er seinem Text gelegentlich historische Dokumente beigibt. So entsteht sein aus individuellen Geschichten gefügtes Geschichtsbuch, das sinnlich macht, dass die Vergangenheit eben nicht tot ist. Weil es ihm gelingt, jede seiner so unterschiedlichen Figuren plausibel zu machen gerade in ihren Verirrungen, ist der Roman zu empfehlen auch und vielleicht vor allem für den geschilderten Ereignissen nachgeborene Generationen.
Da gibt es den für historische Heldentaten gefeierten Greis, den zum Kreisleiter aufgestiegenen Blumenhändler und seine nach Berlin ausgestiegene Gattin mit besonderen erotischen Neigungen, im Krieg verheizte Zwillinge, eine Blockwartin mit problematischem Sohn, einen von "Ballastexistenzen" sprechenden SS-Arzt, einen Papierfabrikanten, der in die Waffenproduktion einsteigt, BDM-Mädchen, Pimpfe, Flieger-HJ, Honoratioren, gewesene Philanthropen und anders Gewendete, Rennfahrer, fahrendes Volk, Trecks von Ausgebombten und ganz am Ende noch einmal Uta und Theo, die in einem gespenstischen Finale ihr Lebenswerk in Flammen aufgehen sehen.
Wie eine Reihe anderer deutschsprachiger Autoren widmet sich auch Arno Frank in seinem durchgehend überzeugenden Roman der Provinz, weil hier alles übersichtlich und darum begreifbar ist. Wo im Großen Durch- und Überblick verloren zu gehen drohen, können hier Mechanismen nachvollziehbar gemacht werden. So war das in Eva Menasses "Dunkelblum", in Christoph Heins "Guldenberg" oder in Juli Zehs "Unterleuten". So ist das in Arno Franks "Ginsterburg". Wie ein großes Fazit steht da gegen Ende des Romans: "Ohne ihr Gedächtnis war eine Stadt nur Hülle. Eine Signatur auf der Karte, mehr nicht. Vergangenes war vielleicht auszulagern. Zu Hause aber war es nur dort, wo es sich zugetragen hatte. Würden die Artefakte und Nachweise ihrer Vergangenheit ausgelöscht, es träfe Ginsterburg wie einen Menschen der Schlag." Aber eben nicht nur Ginsterburg. ULRICH STEINMETZGER
Arno Frank:
"Ginsterburg". Roman.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2025. 430 S.,
geb.
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