In "Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte" von Kirsten Boie wird die berührende Geschichte von Blau-Auge, einem jungen Fuchs, erzählt, der nach einem großen Waldbrand seine Familie verliert und von Mama Reh und ihren Kindern am Rande des Waldes gefunden wird. Trotz der tiefen Trauer über den Verlust seiner Familie gibt sich Blau-Auge alle Mühe, in seiner neuen Familie ein gutes Reh zu sein. Die Geschichte nimmt eine dramatische Wendung, als erst eine kleine Maus und dann das Rehkitz Vielpunkt verschwinden. Schnell fällt der Verdacht auf Blau-Auge, denn die anderen Waldtiere können nicht glauben, dass ein Fuchs seine Natur ändern kann. Doch Blau-Auge lässt sich nicht entmutigen und beweist durch seine Taten, dass er ein wahrer Freund ist, auf den man sich verlassen kann, und lehrt damit eine Lektion über Freundschaft, Vertrauen und die Überwindung von Vorurteilen.
Dieses Buch ist nicht nur eine Geschichte über die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen einem Fuchs und einem Reh, sondern auch ein tiefgründiges Werk, das wichtige Themen wie Familie, Akzeptanz und die Fähigkeit zur Veränderung behandelt. Kirsten Boie nutzt die klassische Fabeltradition, um moderne Fragen von Vorurteilen, Ausgrenzung und Fürsorge anzusprechen, und schafft es, diese schweren Themen auf eine Art und Weise zu vermitteln, die sowohl Kinder als auch Erwachsene anspricht. Die wunderschönen Illustrationen von Barbara Scholz tragen dazu bei, die Welt des Waldes und seiner Bewohner lebendig zu machen, und machen das Buch zu einem visuellen wie erzählerischen Genuss.
Besprechung vom 27.05.2019
Vorsicht vor Rundfüßlern
Gut so: In "Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte" lässt Kirsten Boie viele Fragen offen
Wie vom Himmel gefallen liegt ein graues Pelzbündel zwischen den Tieren, die vor dem Waldbrand geflohen sind und sich nun versammeln. Weil das Wesen auf Fragen nur mit einem wimmernden "Mama" antwortet und kaum den Kopf hebt, geschweige sich aufrichtet und ansehen lässt, rätseln die Tiere, womit sie es überhaupt zu tun haben. Abenteuerliche Vermutungen werden laut, gerade von selbsternannten Experten, und als dann schließlich klar ist, dass da ein Fuchswelpe zwischen ihnen liegt, setzt das den Vermutungen, den Gerüchten, den Verleumdungen dennoch kein Ende: Man wisse ja, wie sie sind, diese Füchse, schlau und gefährlich, am besten halte man Abstand.
Einzig Mama Reh, die mit ihren drei Kitzen Langbein, Vielpunkt und Glanzfell gekommen ist, will sich des Waisen annehmen. Einfach so dalassen kann man den Fuchs ja nicht, findet sie, und ihre Sprösslinge begegnen dem Tier, das nun ihr Bruder sein soll, mit mehr oder weniger Sympathie.
Was der Fuchs, genannt Blau-Auge, nicht kann, wird rasch klar, über Zäune springen nämlich, aber was er statt dessen zum Wohlergehen der Familie beitragen könnte, erschließt sich nicht so schnell. Am Ende reicht der Fall einer verschwundenen Waldmaus, um Blau-Auge zwielichtig erscheinen zu lassen - einmal Fuchs, immer Fuchs. Und der Welpe muss die Rehfamilie verlassen.
Kirsten Boie hat mit ihrem neuen Roman "Der Fuchs, der ein Reh sein wollte", wieder mit klarem Strich und kräftigen Farben illustriert von Barbara Scholz, die schon Boies "Ritter Trenk" mit Bildern versah, auf den ersten Blick eine Tiergeschichte mit vermenschlichten Protagonisten geschrieben - die Wildschweine, Amseln, Kaninchen und Igel verkehren einträchtig miteinander, sie diskutieren und streiten, betrachten aber einander kaum als Beute, und im Hintergrund lauert der Mensch mit seinen mörderischen Autos, den "Rundfüßlern".
Was aber hier verhandelt wird, erinnert gerade nicht an "Bambi" und dergleichen, sondern an die Tradition der Fabeln - nicht im Duktus, wohl aber darin, dass es um Grundmuster menschlichen Verhaltens geht, die hier an Tieren kenntlich gemacht werden. Es geht um Fürsorge, um Angst vor dem Fremden, um Vorurteile und Ausgrenzung, und es macht den großen Reiz dieses Romans aus, dass er all diese Fragen differenziert betrachtet und weniger an Urteilen interessiert ist als an den Ursachen.
Dabei rückt rasch die Angst als Hauptantrieb für Ausgrenzung in den Fokus, zugleich aber auch die Frage, warum einige Tiere dennoch bereit sind, dem Fremden entgegenzukommen. Und schließlich die nach der Umgebung, wo ein entwurzeltes Wesen am besten aufgehoben ist: unter seinesgleichen und sonst denen, die ihm noch am meisten ähneln? Oder unter denen, die das meiste Verständnis für ihn aufbringen, unabhängig von der Biologie? Oder schließlich, ein kühner Gedanke, unter denen, die ihn am meisten zu neuen Verhaltensweisen und zum Entwickeln neuer Fähigkeiten herausfordern? In diesem Fall: als Fuchs unter Rehen, die ihn zum Überwinden von Weidezäunen bringen, auch wenn sie selbst einen anderen Weg gehen?
Auch hier vermeidet Boie auf wohltuende Weise, sich explizit für eine dieser Richtungen zu entscheiden - auch wenn der Fuchs am Ende ein Plädoyer hält und die Antwort gibt, die er für seine Existenz gefunden hat. Die Fragen aber wirft die Autorin auf, und so wie die Tiere sich ihnen stellen müssen, so auch die Leser. Auch hierin steht Boie in bester Fabel-Tradition.
TILMAN SPRECKELSEN
Kirsten Boie: "Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte". Roman.
Mit Bildern von Barbara Scholz. Oetinger Verlag, Hamburg 2019. 192 S., geb., 16,- [Euro]. Ab 8 J.
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