
Der Weltbestseller Bevor der Kaffee kalt wird mit den vier berührenden Geschichten aus dem magischen Café
In einer kleinen Seitengasse in Tokio gibt es ein Café mit Namen Funiculi Funicula, das seit über hundert Jahren außergewöhnlich guten Kaffee serviert. Eine lokale Legende besagt, dass es noch etwas anderes als Kaffee anbietet: die Möglichkeit, in der Zeit zurückzureisen. Doch Zeitreisen sind nicht so einfach, und es gibt Regeln, die befolgt werden müssen. Am wichtigsten ist, dass die Reise nur so lange dauern kann, wie der Kaffee braucht, um kalt zu werden. Im Laufe eines Sommers besuchen vier Menschen das Café in der Hoffnung, diese Reise anzutreten. Sie möchten diese einmalige Gelegenheit nutzen, um Dinge abzuschließen und Trost zu finden. Ihre Motive sind unterschiedlich, doch die gelernte Lektion dieselbe: Egal ob Versöhnung, Vergebung oder neue Hoffnung - das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.
Vier Erzählungen über den Sinn des Lebens und die Aussöhnung mit der Vergangenheit
Mach dich bereit bereit, vier Gäste kennenzulernen, von denen jeder die Möglichkeit der Zeitreise des Cafés nutzen möchte, um
Herzerwärmend, wehmütig, mysteriös und wunderbar skurril erkundet Toshikazu Kawaguchi die Frage: Was würdest du ändern, wenn du in der Zeit zurückreisen könntest?
Besprechung vom 03.11.2025
Mord an den Ufern des Tamsui
Die Motive von Straftätern sind in Taiwan nachrangig: Ping Lus deutsches Romandebüt "Dunkle Gewässer" macht gesellschaftliche Konflikte sichtbar.
Hier war das dreieckige Gebiet, wo sich der Flussstrom vor dem Café wand und sich Lumpen, Zeitungen, Plastikflaschen, alte Reifen und anderes unbrauchbares Zeug sammelten. Wenn jemand näher herantrat, was würde er sehen?" Im Frühjahr 2013 wurden an den Ufern des Flusses Tamsui in Taipeh die Leichen eines älteren Unternehmerehepaars angespült. Die zwei Opfer waren mit einem Obstmesser erstochen worden und hatten danach einige Zeit im Wasser gelegen.
Ihre Mörderin war schnell überführt: die junge Vorarbeiterin eines lokalen Cafés, bis dahin nicht aktenkundig und unauffällig. Doch in der Boulevardpresse Taiwans war kurz darauf nur noch von der "Dämonenfrau" die Rede, die den Mord allein aus Habgier begangen habe. Kurz darauf verurteilte ein Gericht die Angeklagte zum Tode. In Taiwan gebe es ein eher nachrangiges Interesse daran, die tieferen Beweggründe von Straftätern zu ermitteln, erklärt die Autorin Ping Lu im Nachwort zu "Dunkle Gewässer". Es gelte schlicht als Zeitverschwendung, sich damit auseinanderzusetzen. Dabei ließen die Spuren, die vom Tamsui-Fall sichergestellt wurden, einen breiten Interpretationsspielraum zu.
"Ein Roman ist für eine Schriftstellerin eine Methode, um Zweifel zu beseitigen", schlussfolgert Lu und veröffentlicht nach zahlreichen preisgekrönten Romanen, Lyrik und Theaterstücken mit "Dunkle Gewässer" ihren ersten Kriminalroman und zugleich ihr erstes ins Deutsche übertragene Werk. Eine fiktionalisierte Nacherzählung der Tamsui-Morde, in der sich alles um die Frage nach dem Warum dreht. Die Tat selbst spielt darin eine ebenso untergeordnete Rolle wie die polizeilichen Ermittlungen, vielmehr entsteht das Psychogramm einer jungen Frau namens Jiazhen, deren Leben seit frühester Kindheit von Armut und Missbrauch geprägt ist.
Wie Tausende junge Frauen kommt Jiazhen Anfang der Zehnerjahre aus ihrem Dorf in die Hauptstadt, beginnt ihr Studium nebst Arbeit in einem Café und träumt davon, irgendwann einen eigenen Laden zu eröffnen. Gerade als dieser bescheidene Traum an wirtschaftlichen Zwängen zu zerschellen droht, findet sie in dem älteren Stammgast Herrn Hong einen willigen Unterstützer. Ganz anders klingt hingegen die Wahrheit seiner Ehegattin, der erfolgreichen und allseits geachteten Universitätsprofessorin Frau Hong, die im Fluss liegend mit dem Tode ringt und in ihren letzten klaren Augenblicken noch einmal die Schlüsselmomente ihrer unglücklichen Ehe durchlebt. Am Ende eines jeden Kapitels fügt die Autorin kommentierende Zitate an: Notizen von Jiazhens Verteidigerin, Absätze aus gerichtlichen Gutachten und Pressemitteilungen, Zeilen aus Truman Capotes True-Crime-Vorreiter "Kaltblütig", Schmähungen aus den Kommentarspalten einschlägiger Foren, die Aussagen der Opferfamilie oder meinungsstarker Passanten, die dem Prinzip der Unschuldsvermutung meist wenig Bedeutung beimessen.
Lu nimmt so unmittelbar Bezug auf die Missstände des taiwanischen Justizsystems und auf den Druck der sozialen Erwartungen und Urteile, der insbesondere auf jungen Frauen lastet. Dabei wird nicht etwa ein Gerichtssaal zum zentralen Schauplatz, sondern ein hippes Café an den Ufern des Tamsui, wie sie in der zeitgenössischen ostasiatischen und insbesondere japanischen Literatur - die in Taiwan bereits seit der Zeit der japanischen Besatzung in großer Zahl übersetzt erscheint - häufig vorkommen.
In einem der stilbildenden Romane dieser Art, Toshikazu Kawaguchis Bestseller "Bevor der Kaffee kalt wird", ermöglicht ein bestimmter Stuhl in einem kleinen Tokioter Café den Gästen, in der Zeit zurückzureisen und so mit der Vergangenheit abzuschließen. Die tröstliche Gesellschaft Fremder, der betörende Kaffeeduft, die Ruhe vorm Alltagsstress und nicht selten auch die Anwesenheit von Katzen entwickeln an diesen Orten eine geradezu magische Heilkraft für emotionale und kollektive Wunden. Ping Lu erweitert diese literarische Gattung in "Dunkle Gewässer" um eine düsterere, sozialrealistische Perspektive, ihr Café wird zum Knotenpunkt verschiedener gesellschaftlicher Schichten und Generationen, deren Leben sonst fein säuberlich getrennt voneinander verlaufen und an dem die daraus resultierenden Konflikte überhaupt erst sichtbar werden. Eben wie der Unrat, den der Fluss fortwährend anspült.
Mit seiner Gezeitenzone unweit der Meeresmündung, wo das Wasser aufgrund der spiralförmigen Strömungen und wechselhaften Wetterverhältnisse schon salzig schmeckt, erfüllt der Tamsui auf anschauliche Weise die Rolle eines erzählerischen, symbolischen und poetischen Ordnungssystems des Romans. Wenn Frau Hongs Blut in den Schlamm sickert und rote Fäden durch das Wasser wabern, die nasse Kleidung ihr am Körper klebt, wenn sich Jiazhen fühlt wie ein Stück Treibholz, den der Strom der Geschehnisse herumwirbelt, dann wird Lus Sprache selbst ein Teil dieses Biotops. Die Mörderin übergibt dem Fluss ihre Probleme mit dem sehnsüchtigen Wunsch, er möge sie fortspülen und vergessen machen, aber von der Schuld kann er letzten Endes niemanden reinwaschen. KATRIN DOERKSEN
Ping Lu: "Dunkle Gewässser". Ein Taiwan-Thriller.
Aus dem Taiwanischen von Monika Li.
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2025.
350 S., br.,
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