Besprechung vom 22.04.2025
Der Frühling naht mit Winterfell
George R. R. Martins Epos "Das Lied von Eis und Feuer" war schon populär, bevor die HBO-Verfilmung "Game of Thrones" den Stoff zum Welterfolg machte. Jetzt sind die Romane in einer aufwendigen Hörbuchedition erschienen. Ein Erlebnis.
Die Romane der Fantasyreihe "Das Lied von Eis und Feuer" wurden mehr als 85 Millionen Mal verkauft und in etwa fünfzig Sprachen übersetzt. Die Bücher umfassen je nach Ausgabe mehr als 5000 Druckseiten und stellen mehrere Hundert sprechende Charaktere vor. Liest man alle zwischen 1996 und 2011 bisher erschienenen fünf Bände des amerikanischen Autors George R. R. Martin nonstop hintereinander, benötigt man mehr als eine Woche.
Stefan Kaminski, einer der erfahrensten deutschen Hörbuchsprecher, brauchte für die ungekürzte Lesung des "Lieds" hundert Tage im Tonstudio, wobei er nicht nur alle Regieanweisungen Martins im Roman zu berücksichtigen hatte (so etwas wie: "sagte er verträumt"), sondern auch jeder Figur eine eigene Prägung zu geben versuchte. Heraus kamen mehr als zweihundert Stunden Spielzeit, die auf 34 MP3-CDs passen und ein 25-seitiges Album im Langspielplattenformat füllen, das auch Informationen über die wichtigsten Herrschaftshäuser sowie mehrere Landkarten, darunter eine in Postergröße, enthalten.
Dieses Zusatzmaterial ist auch nötig, um in Martins ausgeklügelter Phantasiewelt, deren Umrisse grob mit denen Englands und Kontinentaleuropas, inklusive Anatolien, übereinstimmen, nicht die Orientierung zu verlieren. Ein paar Eingriffe in die bisherige Buchwelt hat man sich in der Hörbuchproduktion aber doch erlaubt: Die fünf Originalromane wurden, wie schon in der frühen deutschen Buchausgabe nach der Übersetzung von Jörn Ingwersen und Andreas Helweg, in zehn Bände mit eigenem Titel unterteilt, die Namen wurden zuweilen dem englischen Original angeglichen - aus Jon Schnee wurde zum Beispiel "Jon Snow".
Selbst wenn man die Fernsehserie "Game of Thrones" kennt, eröffnet sich mit der Hörbuchlesung ein im Detail immer wieder neu faszinierender Kosmos. Und wer keinerlei Kenntnisse über das Phantasiereich George R. R. Martins besitzt, wird schnell von der besonderer Fähigkeit des Autors, kulturgeschichtlich Vertrautes mit treffsicherem Fantasy-Twist zu versehen, aufgesogen. Martins Welt kennt Ritter, Könige, Burgen, Schiffe und scheint in vielem den Gesetzen des historischen Mittelalters zu gehorchen - so gibt es Anklänge an die Ritterorden, den Hundertjährigen Krieg oder den Intrigantenhof in Konstantinopel -, nur ist sie eben auch noch bevölkert von sagenhaften Gestalten wie Untoten, Greifen, Drachen und zahlreichen Neuerfindungen Martins wie den "Schattenwölfen", die im Roman - eine hübsche Volte - zu Beginn noch als ausgestorben gelten. Die Frage, wann das alles spielt, tritt in den Hintergrund. Es gibt im Roman verschiedene Zeitrechnungen und Genealogien, die Tausende von Jahren bis zu den Wehrholzbäumen, den halbmagischen "Kindern des Waldes", den "Ersten Menschen" und den "Andalen" zurückreichen, doch vieles ist nur Spielerei. Es dominiert die jüngste Zeitebene des Romans, die aus wechselnder Figurensicht geschildert wird.
Bewundernswert, mit welcher Sicherheit es Martin gelingt, erfundene Namen altvertraut klingen zu lassen: Die Patina auf "valyrischem Stahl" meint man rein vom Wort her vor sich zu sehen, ein "Archont" kann nichts anderes als ein politischer Führer sein, und wer würde zögern, von reifen "Feuerpflaumen" zu kosten? Oft reicht dem Autor ein ausgetauschter oder zusätzlicher Buchstabe, um alten Begriffen eine neue Bedeutungsnuance zu verleihen. So ist der "Maester" eine Art universell Gelehrter mit beratender Funktion, ein Ser ist ein Ritter, und aus dem Khan der Mongolen wird bei Martin der dem Steppenvolk der Dothraki vorstehende "Khal". Herrlich übermütig ist, dass Martin nicht nur altertümliche Redewendungen erfindet, sondern seinen Erzähler auch an einer Stelle anmerken lässt, dass der Sinnspruch des Herrscherhauses Stark, jenes berühmt gewordene "Der Winter naht", eigentlich gar keine echte Sentenz ist. Auch mit solchen Sophistereien verwischt Martin die Grenzen zur Realität.
Der Hauptunterschied zwischen dem Geschehen im "Lied von Eis und Feuer" und der abendländischen Geschichte besteht in der vollkommenen Abwesenheit des Christentums. Die Hauptfiguren glauben vorwiegend an die Götter ihrer Vorfahren, ihre Moral freilich unterschreitet kaum die der echten mittelalterlichen Herrscher. Die Handlung wird getrieben von den Machtgelüsten Einzelner, die eher zufällig von elementaren Mächten begrenzt werden. Wobei sich die Flüchtlingsströme und Klimaextreme, welche die Romane durchziehen, problemlos auf die Jetztzeit übertragen lassen. Mit der von George R. R. Martin erfundenen gigantischen Mauer, die das vermeintlich Gute vom vermeintlich Bösen und Fremden trennen soll, hat der Autor lange vor Trump eine Signatur der aktuellen weltpolitischen Lage geschaffen.
Im Unterschied zur Serie, die ihre Vorlage einerseits shakespearisiert, andererseits den Zuschauer mit Elementen des Horror- und Softpornofilms triggert - weshalb HBO die jüngeren Figuren aus dem "Lied" auch zwei bis drei Jahre älter machen musste -, erinnert das Original erstaunlich oft an ein Jugendbuch, in dem Teenager wie Arya Stark versuchen, ihre Position in einer feindlichen Welt zu finden. Wenn "Game of Thrones" darin spektakulär ist, den Zuschauer mit prägnanten Bildern in eine Parallelwelt zu katapultieren, sind es die Romane nicht weniger in ihrer ausgefeilten Leserführung. Es ist ein Genuss, George R. R. Martin bei der allmählichen Ausbreitung seines Stoffs zu folgen. Im Prolog, der in der Eiseskälte nördlich der Mauer angesiedelt ist und den Stefan Kaminski so fröstelnd liest, als wolle er so schnell wie möglich wieder ins Warme, werden schleichend die Naturgesetze außer Kraft gesetzt. Schemenhaft verrichten "die Anderen" (in der Serie heißen sie "Weiße Wanderer") ihr mörderisches Werk in den Reihen der Nachtwache. Verunsicherung greift um sich, die jedoch vorerst keine Kreise ziehen kann.
Von der Eiseskälte geht es in die verschneite mittelalterliche Welt der Familie Stark in Winterfell, wo gerade eine Hinrichtung vollzogen wird. Der Zuhörer lernt Hauptfiguren wie Eddard und Catelyn Stark sowie den "Bastard" Jon kennen, erste Verbindungen zwischen den Herrscherhäusern von Westeros zeichnen sich ab. In einem herkömmlichen Roman würden die tapferen Starks zu Sympathieträgern aufgebaut, die irgendwann als die Guten obsiegen. Doch George R. R. Martin unterläuft diese Erwartung, bald schon häufen sich bei den Starks die Schicksalsschläge; die in einigen Figuren angelegte Tragik nimmt gnadenlos ihren Lauf.
Eine gänzlich andere Welt eröffnet sich im einige Hundert Kilometer östlich gelegenen "Essos". In Gestalt Daenerys Targaryens, die sich später als "Mutter der Drachen" bezeichnen wird, tritt das feurige Element ins Geschehen. Jetzt spätestens wird der Buchhörer, um die vielen Orte zu lokalisieren, welche die Prinzessin in der Rückschau durchläuft, die große Karte im CD-Album auspacken. Nach wenigen Kapiteln ist das gesamte Spektrum des Buchs zeitlich und räumlich durchmessen, die Extreme von Eis und Feuer sind in Erscheinung getreten, allerdings ohne dass sich ihre Bedeutung gänzlich offenbart hätte. In Figuren wie Bran oder Hodor hat George R. R. Martin gleich zu Beginn Motive angelegt, deren volle Bedeutung erst Tausende Buchseiten später zum Tragen kommt.
Unterhaltsam ist Jon Snows Bericht über das rauschende Fest zu Ehren König Roberts, das zugleich Gelegenheit bietet, die ehrgeizigen Familien Baratheon und Lannister kennenzulernen. Jon, der im Buch viel witziger und smarter ist als in der Serie, freut sich, an diesem Tag ein "Bastard" zu sein, denn er kann sich am Tisch der Schildknappen ungestört betrinken. Sein klarer, unverstellter Außenseiterblick verbindet ihn mit der etwas jüngeren Arya und dem geistreich-ironischen "Gnom" Tyrion Lannister, der einem Shakespeare-Drama entstammen könnte.
Stefan Kaminski, ein mit Hörbuchpreisen überhäufter Vorleser, legt seine Erzählerstimme eher zurückgenommen an. Er erzeugt keine künstliche Spannung und versucht auch nicht, einen episch klingenden "Lied"-Ton zu treffen, den die Bücher nicht hergeben. Kaminski macht erstaunlich viele Pausen zwischen den Sätzen, wodurch sich immer wieder eine angenehme Ruhe über die gesamte Lesung legt. In der Figurenrede hingegen kann er sehr temperamentvoll sein. Jeder Charakter sitzt, wobei Kaminski auf eine Datenbank mit Hunderten von Stimmproben zurückgriff. Tonlagen wie die des "Bluthunds" Sandor Clegane lehnt er wiedererkennbar an die Fernsehserie an, beeindruckend ist, welches Stimmvolumen er Figuren aus höheren Gewichtsklassen verleiht. Manchmal hat man das Gefühl, er könne seine Stimme kneten.
Das Hörbuch hat in den letzten Jahren massive Audiokonkurrenz durch Streaminganbieter und die Apps der öffentlich-rechtlichen Sender bekommen; die CD gilt fast schon als tot. Lässt man das Format aber mit so viel Liebe und Ambition aufleben, wie es Random House Audio in diesem Projekt tut, wirkt es so vital wie eh. Es ist schön altmodisch und zukunftsfähig zugleich. UWE EBBINGHAUS
George R. R. Martin: "Das Lied von Eis und Feuer."
Ungekürzte Lesung von Stefan Kaminski. Random House Audio, München 2025. 34 MP3-CDs, 212 Stunden
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