Ein fantastisches Märchen von der Macht der Blicke und weiblichem Begehren.
Sie sind zu dritt, und in der abgeschiedenen Villa hinter hohen Bäumen sind sie die Königinnen: die Gouvernanten. Auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Jungen geben sie wenig, lieber lassen sie sich müßig durch die hellen Tage treiben.
Unbeeindruckt von den Wünschen der Herrschaften Austeur und des greisen Nachbarn, ziehen sie in ihren seidenen Kleidern durch die Farne, rauchen mit nackten Beinen und gebieterischen Blicken auf der Vortreppe. Und wenn sich ab und zu das goldene Tor öffnet und sich ein Fremder in ihren Garten verirrt, gehen sie wie im Rausch auf die Jagd und verschlingen ihre Beute mit Küssen und Bissen.
Mit Eleganz, dunkler Sinnlichkeit und subtiler Komik erzählt Anne Serre in diesem fantastischen Märchen von der Macht der Blicke und von weiblichem Begehren.
Besprechung vom 26.08.2025
Zugfahrt ins andere Ich
Anne Serres lustvoll ersonnenes Traumspiel über eine Schriftstellerin im TGV: "Einer reist mit"
Sie produziere pausenlos Träume und Vorstellungen, aus denen sich ganze Romane stricken ließen, und fühle sich manchmal wie eine Ballmaschine auf dem Tennisplatz, schrieb Anne Serre in ihrem mit Frankreichs wichtigstem Literaturpreis ausgezeichneten Erzählband "Im Herzen eines goldenen Sommers". Und tatsächlich scheinen Serres lustvoll konstruierte Assoziationsketten, Tagträume, Erinnerungen und Phantasiewelten aus einer unerschöpflich feuernden Fiktionskanone zu stammen, mit der Serre nach Belieben die reale Welt literarisiert. In ihrem Debütroman "Die Gouvernanten", der nach mehr als drei Jahrzehnten 2023 auch auf Deutsch erschien, entführte die 1960 in Bordeaux geborene Autorin in die märchenhafte Phantasiewelt dreier liebesgieriger Kindermädchen, die sich im Park des Anwesens ihrer Herrschaften weniger mit deren Kindern beschäftigten, als Nachbarn und Besucher mit Blicken und offensivem Begehren zu verzaubern.
Dass sich Serres im besten Sinne magische Realitätsszenarien nun auch dem deutschsprachigen Publikum öffnen, ist ein Verdienst des Berliner Berenberg Verlags und der Übersetzerin Patricia Klobusiczky. Das scheinbar tiefenentspannte Parlando von Serres hoch präzisen Beobachtungen und Reflexionen überträgt Klobusiczky so elegant und stilsicher, dass der erkennbar französische Duktus von Serres Texten auf fast wundersame Weise auch im Deutschen aufgeht.
Dies gilt auch für den jetzt übersetzten Roman "Einer reist mit", in dem Serre ihre Leser auf eine traumartige Zugreise einlädt. Bereits als die Ich-Erzählerin am frühen Morgen am Pariser Gare Montparnasse in den TGV nach Montauban steigt (auf dem dortigen Festival soll sie aus ihrem letzten Roman lesen), wird sie im Halbschlaf von Fragen und Obsessionen eingeholt: "Wie fast immer war ich zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und hergerissen, als hielte mich ein Teufelchen davon ab, ganz und gar in der Gegenwart gegenwärtig zu sein oder mich voll und ganz auf die Vergangenheit zu konzentrieren, ein Teufelchen, das unbedingt alles miteinander vermengen und mich nötigen wollte, sowohl der Vergangenheit nachzuhängen als auch in der Gegenwart gegenwärtig zu sein."
Wie die Beobachtung von Mitreisenden, die am Fenster vorbeifliegenden Landschaften, der hypnotische Rhythmus der Fortbewegung oder rätselhafte Durchsagen des Schaffners nicht nur Assoziationsketten und Träume inspirieren, sondern zuweilen sogar kathartische Wirkungen zeitigen, beschrieb 1957 schon Michel Butor in seinem epochalen Roman "La Modification". Während das Buch, das Butors Held auf der Reise von Paris nach Rom bei sich führt, bis zur Zielankunft ungeöffnet bleibt, macht Anne Serre die Reiselektüre ihrer Heldin (die ihr auffällig ähnelt) zum narrativen Kern ihres kaum 140 Seiten umfassenden Romans.
Der literarische Impulsgeber von Serres Bewusstseinsreise ist der spanische Autor Enrique Vila-Matas. Anstatt sich wie ursprünglich beabsichtigt auf ihre eigene Lesung vorzubereiten, holt Serres Erzählerin dessen 2014 tatsächlich erschienenen Roman "Kassel: eine Fiktion" über die Reise des Schriftstellers zu einer avantgardistisch-performativen Lesung auf der Documenta 13 hervor. Serre übernimmt in ihrem Pastiche nicht nur Vila-Matas Reiseszenerie, sondern auch seine literarischen Eigenheiten und Vorlieben wie etwa die für Robert Walser, bedient sich wie Vila-Matas erfundener Zitate fiktiver Autoren ("um nicht 'Ich' sagen zu müssen") und lässt den Spanier schließlich sogar als Sitznachbarn im Zugabteil in Person erscheinen. Im fiktiven Zwiegespräch erkundet Serres Ich-Erzählerin angeregt plaudernd die Quellen des eigenen Schreibens und das Dasein als Autorin, die heute nicht länger ein geheimnisvolles, unberührbares Wesen sei, sondern wie ein "Rockstar" auf der Bühne performen müsse, oder hinterfragt die "unerschütterliche Gewissheit der eigenen Berühmtheit" (trotz aller Gegenbeweise!). Im Mittelpunkt steht dabei stets der Drang, sich schreibend wechselnde Identitäten zuzulegen und diese - als höchste Form der künstlerischen Verwirklichung - schließlich ganz abzulegen.
Anne Serre dabei zuzuschauen, wie sie sich Stück für Stück selbst aus dem eigenen Text hinausschreibt, indem sie konsequent Realitätsbezüge und Phantasie bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschränkt und zuletzt sich selbst zur Fiktion werden lässt, ist ein großes Lesevergnügen. Serre treibt ihr Verwirrspiel mit Lust und Ausdauer so weit, dass sie im zweiten Teil ihres Kurzromans gänzlich die Rolle ihres spanischen Kollegen Enrique Vila-Matas annimmt und eine doppelbödige Verwechslungsgeschichte erdichtet, die bis ins stilistische Detail aus dessen Feder stammen könnte. "Einer reist mit" versteht sich dabei zugleich als Zeugnis einer schreibenden Selbstbefreiung in der Fiktion, als Bruch mit dem, was man einst liebte. Das gilt nicht nur für Serres (fiktiven) Heimatort, an dem sie im Zug sinnierend vorbeirauscht, für ihre Familie und vor allem für die "toxische Wirkung", die ihr Vater zu Lebzeiten auf sie hatte, sondern eben auch für ihre Bewunderung für Enrique Vila-Matas. Am Ende ihrer Reise ist sie überglücklich, in Paris wieder "die Luftverschmutzung vorzufinden, die eiligen Schritte der Passanten, die Härte und Aggressivität eines jeden". Vom Zauber ihrer eigenen Phantasie hat sie sich da längst gelöst, von einer "Welt, in der man in seiner geheimsten und wahrhaftigsten Sprache angesprochen wird, die einem Gewissheit schenkt, darüber, wer man ist und was man vom Leben erwartet." CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Anne Serre:
"Einer reist mit".
Roman.
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Berenberg Verlag, Berlin 2025. 138 S., geb.
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