"Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen."
Die Autorin Ayelet Gundar-Goshen katapultiert ihre Leser*innen im Roman Löwen wecken sofort mitten ins Geschehen. Der prinzipientreue Arzt Etan Grien, ein liebevoller Ehemann und Familienvater, überfäht eines Nachts nach einer endlosen Schicht, mitten inder Wüste einen Menschen. Von einer Sekunde auf die andere gerät seine Welt aus den Fugen. Als klar wird, dass der Eritreer sterben wird, begeht Etan Fahrerflucht.
"Und der Eritreer blutete weiter, als täte er es mit Absicht. Und plötzlich wusste er, er musste weg. Jetzt. Diesen Mann konnte er nicht mehr retten. Da sollte er wenigstens versuchen, sich selbst zu retten."
Am nächsten Morgen steht plötzlich eine dunkelhäutige Frau mit seiner verlorenen Brieftasche vor der Tür und Etan wird klar, dass er so leicht nicht aus der Situation herauskommen wird. Die Fremde hat ihn in der Hand, doch sie nimmt zwar sein Geld, das er ihr für ihr Schweigen anbietet.
"Wie viel wert war Schweigen? Wie viel wert war ein Menschenleben?"
Sirkit zwingt Etan, in einer verlassenen Werkstatt ein Krankenhaus für illegale Einwanderer einzurichten. Etan führt von nun an ein Doppelleben und die Lage spitzt sich immer mehr zu, denn seine Frau, die Polizistin ist, ermittelt zeitgleich im Fall der Fahrerflucht des toten Eritreers.
"Obwohl er sich in seinem ersten Jahr an der Universität geschworen hatte, jeden Menschen zu behandeln, und das ehrlich meinte. Aber etwas so Nahes, Intimes wie der Umgang zwischen Arzt und Patient wurde unerträglich unter Zwang. Da er seinen Patienten gezwungenermaßen half, hasste er sie mindestens so sehr wie sich selbst."
"... und dachte, irgendwo unterwegs sei ihm dieser Knopf kaputt gegangen, der für das Mitgefühl. Er sollte doch eigentlich etwas spüren. Milde. Erbarmen. Verantwortung für seine nächsten. Nicht nur gegenüber diesem Mann, der hier stand und ihm aufgeregt die Hand drückte, während er selbst nur wartete, dass er damit aufhörte. Auch gegenüber jenem Mann, der mit geborstetem Schädel auf dem Boden gelegen hatte, auch ihm gegenüber hatte er nichts empfunden. Oder vielleicht doch, aber nicht das richtige. Nicht das, was er hätte empfinden sollen."
Es war mein erster (aber sicher nicht letzer Roman von Ayelet Gundar-Goshen. Der Schreibstil der Autorin hat mir grundsätzlich sehr gut gefallen, er ist literrisch sehr anspruchsvoll, war mir jedoch (vor allem gegen Ende) etwas zu ausschweifend und langatmig. Das hat das Lesevergnügen zum Schluss hin etwas geschmälert. Anfangs war das noch okay, mit der Zeit (im letzten Drittel) waren es mir dann einfach zu viele Wiederholungen und Abschweifungen, die mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun haben und alles unnötig in die Länge zogen.
Final vergebe ich dennoch 4 für diesen Roman mit seiner moralisch spannenden Fragestellung, was ein Menschenleben wert ist.