Ein packender Roman über Macht und Medien, der Missbrauch sichtbar macht ¿ und zugleich die Bühne erneut Männern überlässt.
Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" ist ein Gegenwartsroman im Scheinwerferlicht: Schnell, dialogreich, mit viel Popreferenz und gutem Gespür für den Tonfall von Redaktionsfluren, Hotelbars und Talkshowsofas. Inhaltlich kreist der Text um Machtmissbrauch im Medienbetrieb und die Frage, wie Loyalitäten, Freundschaften und Karrieren mit solchen Verhältnissen verwoben sind. Der Ich-Erzähler - prominent vernetzt, moralisch aufgerüttelt und erzählerisch omnipräsent - führt durch Episoden, in denen Frauen von Grenzverletzungen berichten und ein System sichtbar wird, das Täter schützt.Literarisch funktioniert das: Die Szenen haben Tempo, das Setting wirkt authentisch, der Sound ist eingängig. Stuckrad-Barre kann Komik und Wut, Selbstironie und Enthüllungssog zu einem Leserausch verschrauben. Gerade Leser*innen, die sonst keine Anklageschriften lesen, werden hier in eine Debatte hineingezogen - das ist ein Verdienst.Aus einer feministischen Perspektive eröffnet der Roman jedoch zentrale Probleme:1) Perspektivmacht und "Male-Savior"-PlotObwohl Frauen mit belastenden Erfahrungen den Anlass des Erzählens bilden, stehen sie selten als Subjekte mit eigenem Blick im Zentrum. Der Erzähler steuert und rahmt fast jede Szene; er ist es, dessen Gewissen erwacht, der recherchiert, zweifelt, handelt - kurz: der die Agentur hat. Dadurch verschiebt sich der Fokus von strukturellem Missbrauch auf die Läuterung eines Mannes. Für eine feministische Lektüre ist das heikel, weil #MeToo eben nicht in erster Linie eine männliche Erkenntnisgeschichte ist, sondern ein Aufbegehren Betroffener.2) Aneignung weiblicher ErfahrungenDer Roman bringt Stimmen betroffener Frauen ein, doch oft bleiben sie fragmentarisch - als Zitate, kurze Auftritte, Nebenfiguren. Der Effekt: Der große kulturelle Ertrag (Aufmerksamkeit, symbolisches Kapital, Bucherfolg) sammelt sich bei einem prominenten Mann, während die eigentlichen Geschichten im Halbdunkel verbleiben. Dass der Text zugleich klar am realen Fallgeschehen andockt, verschärft die Frage, wer hier wessen Geschichte erzählt und wer davon profitiert.3) Personalisierung statt StrukturkritikDer Reiz des Schlüsselromans - das Wiedererkennen realer Akteure - erzeugt Sog, aber auch einen Tunnelblick. Die Dynamik von Chefbüros, Personalpolitik, Non-Disclosure-Agreements, Loyalitätskulturen und Karriereabhängigkeiten wird streckenweise zur Kulisse einer Männerfreundschafts- und Enttäuschungserzählung. So droht der Systemblick, den feministische Kritik einfordert, hinter Promi- und Plotlogik zurückzutreten.4) Darstellung weiblicher StimmenEinige Passagen geben jungen Frauen eine stilisierte, überpointierte Sprechweise, die zwischen Karikatur, Slang und protokollarischer Nüchternheit pendelt. Literarisch mag das Figuren konturieren; zugleich kann es den Eindruck erwecken, weibliche Stimmen seien weniger komplex oder primär Material für den Takt der Erzählung und nicht gleichberechtigte Erzählinstanzen.5) Ethik des Schlüsselromans & VermarktungDie starke Marketing-Aufladung - das Spiel mit "alles nur Fiktion" bei zugleich offenkundiger Referenz auf reale Machtkreise - produziert Voyeurismus. Aus feministischer Sicht stellt sich dann die Frage, ob Betroffene erneut zur Staffage eines öffentlichen Spektakels werden, dessen Regeln weiterhin von prominenten Männern bestimmt sind (Bühne, Tour, Talkshows, Verkaufslogik).Das ist die kritische Seite. Gerechterweise: Der Roman macht Missstände groß sichtbar, erreicht ein Massenpublikum, verhandelt Loyalität und Mitwisserschaft ungeschönt und zeigt, wie verführerisch Macht-Ökosysteme sind. Einige weibliche Figuren (allen voran die zentrale Zeugin) sind nicht nur Chiffren, sondern tragen innere Spannung und moralisches Gewicht. Und ohne den Pop-Appeal eines solchen Buchs wären manche Leser*innen der Sache fern geblieben.Unterm Strich bleibt die Ambivalenz: "Noch wach?" ist ein wichtiger, gut lesbarer Zeitroman über Macht und ihre Schutzmechanismen - aber er reproduziert zugleich eine Blickordnung, in der ein Mann die #MeToo-Erzählung kuratiert. Wer das Buch liest, sollte deshalb zweigleisig lesen: den Thrill genießen, die literarische Könnerschaft anerkennen und gleichzeitig fragen, wessen Stimme hier wie laut wird, welche Strukturen nur streifenlichtartig auftauchen und wie eine Version aussähe, in der die Betroffenen nicht Material, sondern Motor der Erzählung sind.Transparenz-Hinweis: Das Buch habe ich im Rahmen einer Leserunde gewonnen - vielen Dank dafür. Ich bemühe mich, meine Einschätzung davon nicht beeinflussen zu lassen; Eindruck, Wertung und Kritikpunkte sind unabhängig und unbeeinflusst formuliert.