Tatort Kettenhofweg von Franziska Franz (erschienen 2025) basiert auf einem wahren Mordfall, harmonisch eingebettet in eine fiktive Geschichte, die erzählt, wie die Menschen im unmittelbaren Umfeld eines Tatortes das Geschehen wahrgenommen haben könnten.
Es handelt sich um das bislang grausamste Verbrechen, das in Frankfurt am Main verübt wurde. In einer noblen Gründerzeitvilla, einem geheimen Bordell, am Kettenhofweg 124a wurden am 15. August 1994 sechs Personen brutal ermordet. Vier Tage später kam es zur Verhaftung eines Ehepaares, das mordete, um die Zeugen ihres Raubüberfalls zu beseitigen. Abgesehen davon, dass dieser Mordfall bereits 1994 geschah, ist er mir als Österreicherin nicht wirklich in Erinnerung. Umso interessanter las sich die Geschichte für mich. Die Autorin hat sehr intensiv recherchiert, im Stadtarchiv, in der Stadtchronik und diverse Medienberichte. Kontakte zu Experten, dem damaligen Oberstaatsanwalt und Anwohnern haben das Bild abgerundet. Im Nachwort erfährt man konkret, was Fakt und was Fiktion ist.
Im Mittelpunkt der erfundenen Geschichte stehen zwei ältere Anrainer, nämlich Helga Lindemeyer und Albert Lehmann, die nicht nur im Vorfeld der Tat das Treiben in der benachbarten Villa beobachten, sondern sich auch nach der Tat weiter intensiv damit befassen, indem sie die Zeitungsberichte verfolgen. Geschickt hat die Autorin die Fakten mit den fiktiven Eindrücken verwoben, auch chronologisch die Kapitel sind exakt datiert - gut nachvollziehbar.
Durch die Schilderung von Helga Lindemeyers und Albert Lehmanns Alltag, ihrer Beobachtungen, Eindrücke, Mutmaßungen und Ängste wirkt das Geschehen sehr lebendig. Man wird in den Fall hinein gesogen, zwar wissend, worauf es hinausläuft, dennoch gebannt. Die Perspektivenwechsel gestalten die Handlung abwechslungsreich und geschickt gesetzte Spannungsmomente sorgen für gewisse Dramatik. Die private Story ist berührend, man kann Helgas Einsamkeit und Furchtsamkeit nachempfinden, auch ihr Bedürfnis, mehr über die Hintergründe zu erfahren, ihren Gerechtigkeitssinn. Das Streben der beiden alten Leute nach mehr Information treibt die Handlung voran und offenbart gleichsam sukzessive die Fakten, vom Tathergang bis zu den Verurteilungen.
Die Charaktere sind einfühlsam beschrieben. Helga, seit kurzem verwitwet, lebt alleine mit ihrem geliebten Dackel. Sie vermisst ihren Mann, ihre Stütze im Alltag. Sie wirkt anfangs noch sehr naiv, ein bisschen weltfremd, ängstlich und hilflos, doch sie entwickelt eine unerwartete, an Sturheit grenzende Energie, zunächst das Treiben in der Villa zu erkunden und letztlich möglichst viel über Täter und Tathergang zu erfahren. Alberts Motivation für die Nachforschungen hat zwar andere Gründe, doch das gemeinsame Ziel macht die beiden zu Verbündeten.
Mir hat dieser True-Crime-Fall sehr gut gefallen, vom Schreibstil ebenso wie vom Inhalt her. Einerseits sind die Informationen zu den Fakten sehr umfassend, ohne sich in blutige Details zu verlieren. Anderseits kann man sich gut in die Situation und Gefühlslage der Menschen im Umfeld des Tatorts hineinversetzen. Ich spreche eine eindeutige Leseempfehlung aus und vergebe 5 Sterne.