"Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei."
Am Tag, als Hermann Hesse 84 Jahre alt wurde, ein gutes Jahr vor seinem Tod, erblickte ich das Licht der Welt. So ist mir der Nobelpreisträger quasi in die Wiege gelegt worden. Trotzdem habe ich in der Vergangenheit nur wenig von und über ihn gelesen. "Siddhartha" hatte mich stark beeindruckt, an "Das Glasperlenspiel" habe kaum Erinnerungen und "Der Steppenwolf" ist gänzlich verschüttet. Wie gut, dass mich Volker Michels mit seinem Buch "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" auf Hesses Fährte gelockt hat. Ich danke dem Herausgeber herzlich. "Jeder Mensch ist nicht nur er selber, er ist auch der einmalige, ganz besondere, in jedem Fall wichtige und merkwürdige Punkt, wo die Erscheinungen der Welt sich kreuzen, nur einmal so und nie wieder. Darum ist jedes Mensch Geschichte wichtig, ewig göttlich, darum ist jeder Mensch, solange er irgend lebt und den Willen der Natur erfüllt, wunderbar und jeder Aufmerksamkeit würdig." Mit diesen Worten am Anfang des Büchleins wird der Leser in die Sichtweise Hesses gesogen und kommt fortan nicht mehr von diesem Zauber los. Wahrlich zauberhaft ist Hesses Wahrnehmung der Natur, die er in Worte zu fassen vermag, die mir kaum noch menschlich erscheinen. Immer bringt er den Zauber der Natur mit dem Menschen zusammen, sieht beides als eine Einheit. "Voll Blüten Voll Blüten steht der Pfirsichbaum,Nicht jede wird zur Frucht,Sie schimmern hell wie RosenschaumDurch Blau und Wolkenflucht. Wie Blüten gehn Gedanken auf,Hundert an jedem Tag -Laß blühen! laß dem Ding den Lauf!Frag nicht nach dem Ertrag! Es muß auch Spiel und Unschuld seinUnd Blütenüberfluß,Sonst wär die Welt uns viel zu kleinUnd Leben kein Genuß." Viel erfährt der Leser aus Hesses Leben, Episoden aus seiner Kindheit in Calw, sein Verhältnis zu seinen Eltern, sein Schulerleben, von seinen Umzügen und Neuanfängen in reiferen Jahren und auch das Nachdenken über das Alter und den Tod kommt nicht zu kurz. "Wer den Weg der Reife einmal betreten hat, der kann nicht mehr verlieren, nur gewinnen. Bis einmal auch ihm die Stunde kommt, wo er die Käfigtür offen findet und mit einem letzten Herzklopfen dem Unzulänglichen entschlüpft. Wer dann für einen Menschen unserer Art in der Bibel und in anderen Büchern nach einem guten Spruch und Ausruf fahndet, der nicht alles sagt und sagen will, aber den holdesten Glanz der Sache im Spiegel fängt, der wird wohl nirgendwo einen besseren finden als den Psalmvers: 'Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei.'" Der Titel des Buches ist Hesses Gedicht "Stufen" entnommen. Michels folgte den Versen und baute das Buch chronologisch auf. Aber wie warm war mir ums Herz, als ich las: "Warum gab es Zeit? Warum immer nur dies idiotische Nacheinander, und kein brausendes, sättigendes Zugleich? ... Das ganze kurze Leben hindurch konnte man genießen, konnte man schaffen, aber man sang immer nur Lied um Lied, nie klang die ganze volle Symphonie mit allen hundert Stimmen und Instrumenten zugleich." Das zauberhafte Zugleich kann ich empfinden, wenn ich mich ins Buch vertiefe und eine Rezension dazu versuche. Ob Hesse das auch so empfand, wenn er seine Rezensionen schrieb? Ich verneige mich vor einem Genie, das ich in meinem Leben nicht mehr missen möchte. Ich verneige mich vor der Seele von Hermann Karl Hesse. Vera Seidl