Besprechung vom 24.06.2025
Die Revolution ist ins Exil gegangen
Ingo Petz schildert, welche Rolle die belarussische Opposition im Ausland spielt / Von Othmara Glas
Sergej Tichanowskij ist wieder frei. Nach mehr als fünf Jahren wurde der Ehemann der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zusammen mit 13 weiteren politischen Gefangenen am Wochenende aus der Haft entlassen. Tichanowskij wollte im Präsidentschaftswahlkampf 2020 gegen Langzeitherrscher Alexandr Lukaschenko antreten. Seine Festnahme war das Vorspiel für die Revolution in Belarus in jenem Sommer.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Massenproteste im Osten Europas und ihre Niederschlagung fast vergessen lassen; Belarus schafft es nur selten in deutsche Medien. Der Journalist Ingo Petz erinnert in seinem Buch "Rasender Stillstand" an die Revolution und ihre Folgen. Seine These: Während im Land Lukaschenko seine Macht brutal abgesichert hat und Stagnation zu herrschen scheint, geht die Revolution im Exil weiter.
Petz stellt die belarussische Revolution in eine Reihe mit der Solidarnosc-Bewegung im kommunistischen Polen, der Orangenen Revolution in der Ukraine und dem Euromaidan. Es sei eine Freiheitsbewegung, die 2020 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte habe. Für ihn ist die Revolution nicht gescheitert. Sie habe zwar ihr Ziel verfehlt, Neuwahlen durchzusetzen und Lukaschenkos Regime abzulösen, habe aber "tiefgreifende gesellschaftliche Prozesse angestoßen".
Auf 192 Seiten erklärt Petz die autoritären Strukturen, mit denen es Lukaschenko in den vergangenen drei Jahrzehnten immer wieder gelungen ist, seine Herrschaft zu sichern, und welche Rolle Russland dabei spielt. Er erinnert an den Sommer vor fünf Jahren, die Aufbruchstimmung, den neuen sozialen Zusammenhalt und die zunächst friedlichen Proteste gegen die gefälschten Wahlen.
Angeführt wurden sie von Tichanowskaja, die nach dessen Verhaftung anstelle ihres Mannes als Präsidentschaftskandidatin antrat. Zusammen mit Marija Kolesnikowa und Veronika Zepkalo bildete sie ein Trio. Die drei Frauen schafften es, "eine verschworene Einheit zwischen einer dynamischen, gesellschaftlichen Mobilisierung" und einer starken Präsidentschaftskandidatin zu kreieren. Der etablierten Opposition fehlte dafür schon lange die Mobilisierungskraft.
Zu den Gründen, warum ausgerechnet 2020 die Demonstrationen gegen ihn eine solche Wucht entfalten konnten, gehört unter anderem das schlechte Management der Corona-Pandemie. Die Zivilgesellschaft organisierte sich und sprang da ein, wo der Staat versagte. Es herrschte eine "Atmosphäre des gesellschaftlichen Aufbruchs", schreibt Petz. In dieser waren die drei Frauen "Mutmacherinnen, die die Menschen ermutigten, ihr Gefühl der Machtlosigkeit zu überwinden und damit die Politisierung der Gesellschaft zu befeuern".
Präzise arbeitet Petz auch heraus, wie groß der "russische Faktor" für den Machterhalt Lukaschenkos war. Als Lukaschenko auf die Demonstranten einprügeln und in den Gefängnissen foltern ließ, band er sich an Wladimir Putin. Diese Abhängigkeit wird laut Petz immer größer - wirtschaftlich, politisch und militärisch. So nutzt Russland Belarus für seinen Krieg gegen die Ukraine als Militärbasis. Moskaus zunehmender Einfluss höhlt Lukaschenkos Macht aus.
Viele Belarussen lehnen den Krieg ab. Die Ukraine diente ihnen lange als Vorbild für die eigene Nationwerdung. "Wer in der belarussischen Gesellschaft trotz der düsteren Lage im eigenen Land bis dahin noch auf die Möglichkeit eines Wandels gehofft hatte, für den zerstoben alle Hoffnungen mit den ersten Raketen, die in Kiew und anderen Städten explodierten", beschreibt der Autor den Schock vieler Belarussen am 24. Februar 2022.
Petz gilt als einer der renommiertesten Belarus-Fachleute in Deutschland. Der 51 Jahre alte Journalist und Autor beschäftigt sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit dem Land. Seit 2020 leitet Petz die Belarus-Redaktion des Onlineportals "Dekoder".
"Rasender Stillstand" profitiert von Petz' jahrelanger Erfahrung mit Belarus. Er zeichnet ein düsteres Bild. Doch immer wieder gelingt es ihm, dieses auch zu erhellen. Er zitiert belarussische Künstler, Philosophen, Politikwissenschaftler, die die Lage in ihrem Land realistisch einschätzen, aber die Hoffnung auf einen Regimewechsel nicht aufgeben. Es ist ein wichtiges Buch, in einer Zeit, in der die belarussische Gesellschaft in Vergessenheit zu geraten droht. Petz warnt vor einem "sich zusehends schließenden Eisernen Vorhang", von dem vor allem Russland profitieren würde. Hunderttausende Belarussen haben wie Tichanowskaja aus Angst vor Repressionen ihre Heimat seit 2020 verlassen. Sie können im richtigen Moment die entscheidende Rolle für einen Regimewechsel spielen. Tichanowskaja und ihre Mitstreiter haben sich im Exil professionalisiert. Sie treten für die Freilassung der mehr als tausend politischen Gefangenen ein, treffen sich mit ausländischen Regierungsvertretern und werben um Unterstützung für die Zivilgesellschaft, exilierte Belarussen und für unabhängige Medien. Anders als die russische Exilopposition, die sich in Kleinkämpfen verliert, wirken die Belarussen geeint.
Tichanowskaja kündigte am Sonntag an, sich weiter für demokratische Werte und Menschenrechte in ihrem Heimatland einzusetzen. "Er lebt, und wir sind wieder vereint und entschlossen, den Kampf fortzusetzen", sagte sie nach der Freilassung ihres Mannes in Vilnius.
Ingo Petz: Rasender Stillstand. Belarus - eine Revolution und die Folgen.
Edition.fotoTAPETA, Berlin 2025. 192 S.
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