Wie ein richtiger Bretone Galettes isst, warum Streik Nationalsport ist, wieso 56 Atomkraftwerke für Franzosen nicht zu viel sind und weshalb immer mehr Menschen Marine Le Pen wählen: All das erzählt Jean-Marie Magro liebevoll in seiner bunten Erkundung Frankreichs.
Frankreich mon amour
Jean-Marie Magro ist Münchner, Provençale und vor allem rasender Reporter: Mit dem Rennrad hat er Frankreich erkundet, auf einer realen Tour de France: von Paris aus zu den Schtis, vom Mont-Saint-Michel über Cognac und Bordeaux ins friedvolle Baskenland. Von den Pyrenäen hoch auf Alpe d'Huez und Mont Ventoux.
Wie ein richtiger Bretone Galettes isst und Parodisten sich feinsinnig über die Politik lustig machen, warum Streik Nationalsport ist und Mangas im Land von Asterix die Herzen der Jugend erobern, wieso 56 Atomkraftwerke für Franzosen nicht zu viel sind und weshalb immer mehr Menschen - vor allem in seiner Provence - so zahlreich Marine Le Pen wählen: All das erzählt Magro liebevoll in seiner bunten 'Radatouille'.
Besprechung vom 10.07.2025
Eine Radtour in die französische Seele
"Wie wollen Sie ein Volk regieren, das 258 Käsesorten besitzt?", scherzte einst General de Gaulle. Der Journalist und Halbfranzose Jean-Marie Magro begibt sich auf Erkundung französischer Vielfalt und Widersprüche in Form einer 3000 Kilometer langen Selbstfindungsreise teils auf Originaletappen der Tour de France. Im Vorbeifahren sinniert er über Schlaglichter der Geschichte wie Revolution und Kaiserreiche, Kolonialismus, Kollaboration bis zur Atommacht. Auf Zwischenstopps unterhält er sich mit Lehrern, Radprofis, Lokalpolitikern und Verwandten über Bildung und Einwanderung, Staat und Laizität, Streik und Protest, Comics, Küche und Humor. Die Tour de France gerät zum Gesellschaftsspiegel: Während er etwa die Legende Thibaut Pinot als "letzten Romantiker und wunderbaren Verlierer" tituliert, prägen heute Selbstoptimierung, Globalisierung - der "Grand Départ" findet oft im Ausland statt - und Neoliberalismus der von Macron ausgelobten Start-up-Nation ihr Bild. In der "ältesten Tochter der Kirche" Frankreich strukturieren Supermarktfilialen statt Gotteshäuser den Ortskern. Das Buch dekonstruiert Idyllen, Ideale und Klischees, wenn sich Cognac zu 97 Prozent als Exportgut entpuppt oder Weinbauern im Burgund wegen hoher Erbschaftsteuer Grundstücke an Investoren verkaufen. Der Gleichheitsgedanke der Französischen Revolution erweist sich angesichts von Zentralismus als unrealisierbar. Liebevolle Porträts skizzieren die Banlieues zwischen Aufruhr, Diversifizierung und, seit den Olympischen Spielen, Gentrifizierung. Luzide erklärt der Autor Le Pens Erfolg mit der volksnahen Verwaltung von Abstiegsängsten. Die Schlussetappe bildet die Rückkehr in die Provence zum Ort vieler Sommerferienaufenthalte bei den Großeltern: "Der Eisladen ist verkauft, das Lachen des Gendarmen Alain verstummt". Aber trotz Strukturwandel und Desillusionen bleibt für ihn das Land seiner Vorväter und der 258 Käsesorten ein Sehnsuchtsort. STEFFEN GNAM
"Radatouille. Meine Tour de France zu Burgund, Baguette und Banlieues" von Jean-Marie Magro. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2025. 320 Seiten. Broschiert
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