
Die Debatte um »Polarisierung« ist von einem Widerspruch geprägt. Während immer mehr Menschen eine »Spaltung der Gesellschaft« fürchten, zeigen Umfragen, dass die Einstellungen der Bürger:innen gar nicht auseinanderdriften.
Nachdem er sich zuletzt mit »alternativen Fakten« befasste, widmet sich Nils C. Kumkar nun einem anderen Aspekt, der die Debatte über die Debatten verwirrt. Er zeigt, dass die Beobachtung der Gesellschaft notwendigerweise Polarisierung wahrnimmt, da Letztere im politischen System mit seinen Unterscheidungen zwischen Regierung und Opposition sowie zwischen Regierenden und Regierten angelegt ist. Spaltung, so Kumkar, lässt sich letztlich nicht überwinden. Die Frage wäre, wie man produktiver spalten kann. Kumkar bietet nicht nur eine Klarstellung in der Diskussion über Polarisierung, sondern auch eine neue Erklärung für den Erfolg des Rechtspopulismus.
Besprechung vom 31.08.2025
Vom Nutzen der Spaltung
Wie man mit polarisierten Parteien umgehen kann.
Von André Kieserling
Vor einigen Jahren ist Nils C. Kumkar der These entgegengetreten, die amerikanischen Wähler könnten sich derzeit nicht einmal über Faktenfragen mehr einigen: Die Ableugnung des Offensichtlichen zeige nicht etwa, dass die Anhänger Donald Trumps ihre elementare Urteilsfähigkeit verloren hätten, sie sei vielmehr als politische Provokation gedacht. Nun hat der Bremer Soziologe einen zweiten Essay vorgelegt, der von "Polarisierung" handelt.
Von der damit bezeichneten Sache, die er auch "Spaltung" nennt, hat Kumkar einen überraschend positiven Begriff. Das liegt daran, dass dieser Begriff zunächst nur das formale Schema der spezifisch politischen Gegnerschaft treffen soll - und nicht etwa eine breite, die gesamte Bevölkerung erfassende Differenzierung in untereinander verfeindete Großgruppen. Es geht also nicht um das Schreckbild einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft oder um einen offenen Bürgerkrieg mit dazu passenden Fronten, sondern nur um den Dauerkonflikt zwischen Regierung und Opposition. Jedes demokratisch regierte System ist in diesem trivialen Sinne "gespalten".
An dieser Spaltung interessiert Kumkar ein Merkmal, das sie mit anderen sozialen Konflikten teilt: Sachorientierungen werden durch die Orientierung am Gegner überlagert und teilweise verdrängt. Man fürchtet etwa, der Gegner könnte die eigene Zustimmung zu seiner Auffassung als Schwäche deuten, und widerspricht ihr darum auch dort, wo man sie den eigenen Leuten jederzeit abnehmen würde.
Bei Kumkar wird diese Ablenkung von den Sachfragen deutlich betont. Aber da er kein Technokrat ist, fällt es ihm nicht schwer, auch die Vorteile dieser politischen Polarisierung zu sehen. Der Dauerstreit zwischen Regierung und Opposition eigne sich für Berichterstattung durch Massenmedien und trage spätestens auf diesem Umweg auch zur Mobilisierung des politischen Publikums bei. Für die mehr oder minder undurchsichtigen Sachfragen des politischen Entscheidungsprozesses sei der einfache Bürger nur schwer zu begeistern, für große Gegnerschaften dagegen sehr wohl.
Das führt Kumkar zu einem Lob der politischen Zuspitzung, das gegenüber der Harmoniesucht vieler anderer Stellungnahmen etwas Heilsames hat. Es ist freilich ein sehr allgemeines Lob, das noch keinen im engeren Sinne zeitdiagnostischen Gehalt hat. Diesem nähert er sich in zwei Schritten.
Der erste behandelt eine Extremform der Orientierung am politischen Gegner. Wenn eine politische Partei über keine eigenen Ideen von ausreichender Zugkraft verfügt, kann sie sich darauf beschränken, ihren Gegner als Gefahr für den Fortbestand der politischen Ordnung selbst darzustellen: Der Gegner gefährde die "innere Sicherheit", riskiere den "sozialen Frieden", betreibe eine "Spaltung der Gesellschaft". Statt mit dem zu werben, was man positiv erreicht hat oder zu erreichen hofft, kann man sich einfach als Gegner dieses Gegners zur Wahl stellen und hoffen, dass dies genügt.
Dieser Strategie, die dem üblichen Verständnis von politischer Spaltung schon näherliegt, kommt das amerikanische Zweiparteiensystem sehr entgegen. An möglichen Koalitionspartnern stößt sie dagegen auf enge Grenzen. Gegen die SPD ließ die CDU einst plakatieren, sie befinde sich auf dem Weg nach Moskau - nur um wenig später in die erste große Koalition mit ihr einzutreten.
Kumkars zweiter Schritt betrifft die AfD. Von Luhmann her würde es naheliegen, hier eine Protestpartei zu sehen, die das politisch unbequeme Thema der Verunsicherung durch Migration aufgreifen kann, ohne durch Aussichten auf mögliche Regierungsbeteiligung oder durch Rücksichten auf mögliche Koalitionspartner gehemmt zu sein. Die politischen Erfolge ihrer dementsprechend ungehemmten Reden hätten dann den Sinn eines Krisensymptoms, aus dem die anderen, die politisch verantwortlichen Parteien, in maßvoller Weise zu lernen hätten. Der Blick in Länder wie Dänemark zeigt, dass dies keineswegs so aussichtslos ist, wie Kumkar es hinstellt.
Welchen Umgang mit der AfD hält er für angebracht? Er möchte den undiszipliniert redenden Rechten eine gleichermaßen undisziplinierte Gruppe von Linken entgegensetzen, damit auch dieses politische Lager seine unverantwortlichen Sprecher hat. Aber was sollte diese linke Fundamentalopposition mit ihrem mutmaßlich winzigen Publikum den Rechten anhaben können? Um es mit einer Unterscheidung von Karl Kraus zu sagen: Kumkar hat nicht ganz unrecht, wenn er die Arbeit in der normalen Opposition als "Freizügigkeit mit Maulkorb" vorstellt, aber seine eigene Fundamentalopposition wäre doch nur eine "Isolierzelle, in der man schreien darf".
Nils C. Kumkar, Polarisierung: Über die Ordnung der Politik, Berlin 2025
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