
Hartnäckig hält sich das Gerücht, die ältere Kritische Theorie habe zu internationaler Politik nichts zu sagen. Doch hat man vielleicht bisher nur nicht ausreichend genau hingesehen? Tatsächlich, so zeigt Moritz Rudolphs bahnbrechende Studie, fügt sie den Theorien internationaler Politik hinzu, was diesen fehlt, ohne es zu wissen: eine Dialektik von Einheit und Zerfall. In den zahlreichen verstreuten Bemerkungen zur internationalen Politik, die das Spätwerk von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Franz L. Neumann und Herbert Marcuse durchziehen, findet Rudolph das Material zu ihrer Rekonstruktion. Angesichts der zur Diktatur erstarrten kommunistischen Revolution und des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs ist ihr Aussgangspunkt nicht die Fortschrittserwartung, sondern eine pessimistische Geschichtsphilosophie des Abschwungs: In der älteren Kritischen Theorie finden wir dann die Konturen eines Denkens, das im Welteinigungsfortschritt auch den zivilisatorischen Rückschritt vermutet, eine trostlos verwaltete Weltgemeinschaft heraufziehen sieht und die Eskalation der Feindschaft befürchtet - falls die Gelegenheit zum wirklichen Bruch nicht ergriffen wird. Die Konsequenzen, die sich daraus für die vier im Zentrum des Buchs stehenden Denker ergeben, sind ganz unterschiedliche - und führen in ihrem politischen Realismus doch immer direkt in unsere so globalisierte wie zugleich unsicher gewordene Gegenwart.
Besprechung vom 28.11.2025
Kommentare zu einer zerfallenden Welt
Moritz Rudolph sondiert, was die ältere Kritische Theorie zur Weltpolitik zu sagen hatte
Die Kritische Theorie, wie sie Max Horkheimer entworfen und Theodor W. Adorno fortgesetzt hat, verfüge über keine Theorie des Politischen, heißt es, erst recht keine für die internationale Politik. In der Tat sind aus dieser Philosophie, die zur Gesellschaftstheorie drängte, keine programmatischen Texte zu Institutionen, Entscheidungsprozessen, Regierungssystemen und Machtpolitik zwischen Staaten überliefert. Über das Politische hatte Adorno gesagt, es sei "Ideologie"; allerdings fügte er hinzu, Politik sei gleichzeitig "das Allerrealste", denn alle Vorgänge, durch die eine Änderung möglich wäre, seien politische Vorgänge. Auch ohne Theorie: Es gibt viele Kommentare aus dem Horkheimer-Kreis zu konkreter Staatenpolitik und Phänomenen in der Weltgesellschaft, sozusagen "essayistische Umkreisungen".
"Ich will zeigen, dass zur älteren Kritischen Theorie ein international-politisches Denken gehörte, worin es bestand und wie wir es für die Deutung heutiger Globalpolitik verwenden können." So kündigt Moritz Rudolph selbstbewusst sein auf den ersten Blick unwahrscheinliches Buch an. Zugrunde liegt ihm eine Dissertation in politischer Ideengeschichte, so wie auch im Fall von Christian Vollers im selben Verlag erschienener eindrucksvoller Studie "In der Dämmerung" (2022) über die Vorgeschichte der Kritischen Theorie. Es fällt auf, dass die interessantesten, weil ausdrucksstark geschriebenen einschlägigen Arbeiten der letzten Jahre - dazu gehören Iris Dankemeyers "Die Erotik des Ohrs" (2020) über Adornos musikalische Philosophie oder Hendrik Wallats "Dyspraxia" (2023) - nicht in einem Wissenschaftsprogramm, sondern bei den Verlagen der linken Szene erschienen sind. Die Autoren sind um 1980 oder später geboren, publizieren auch außerhalb der Wissenschaft - so wie Rudolph im "Merkur" oder auch in der F.A.Z. -, stehen offensichtlich in einem Generationenkonflikt mit der akademischen Habermas-Schule um Rainer Forst und bevorzugen die ältere Kritische Theorie (ÄKT).
Vier Autoren stehen bei Rudolph im Blickpunkt: Horkheimer, Adorno, Neumann, Marcuse. Horkheimer will den unheilvollen Gang in die "verwaltete Welt" verzögern und das "Minimum an Freiheit" im Westen verteidigen. Adornos dialektischer Konservatismus enthält hingegen die Möglichkeit der Befreiung, also eine postrevolutionäre Resthoffnung, während es derlei dialektisch-messianische Zauberei bei Horkheimer nicht gibt. Bei Franz Neumann, dem "skeptischen Reformisten", geschichtsphilosophisch eher enthaltsam, steht die Gefahr des globalen Behemoth im Vordergrund und die Furcht vor einem wiedererstarkenden Deutschland. Herbert Marcuse spekuliert auf den Ausbruch aus dem kapitalistischen Weltsystem mittels Revolutionen an den globalen Rändern. Die Viererbande mit Marxismus-Hintergrund - dass es sich um Gelehrte mit jüdischem Familienhintergrund handelte, spielt im Buch keine besondere Rolle - ging also bei geteiltem Zweifel am emanzipatorischen Charakter der politischen Welteinheit durchaus verschiedene Wege um Verfasstheit, Vielheit und Verlauf der internationalen Politik zu begreifen, was Rudolph umsichtig und übersichtlich rekonstruiert.
Das Leitmotiv der ÄKT ist demnach die These von Einheit und Zerfall als Schlüssel, um Politik in der globalen Sphäre zu verstehen. Die Tendenz zur Einheit entsteht infolge technisch-ökonomischer Veränderungen, hebt aber politische Spaltungen und Konkurrenzen nicht auf, sondern transformiert sie bloß auf einer höheren und herrschaftsintensiveren Ebene, so wie die Europäische Gemeinschaft die Nationalstaaten des Kontinents.
In dem Buch wird viel zitiert, insbesondere aus Horkheimers "Notizen 1950-1969". Rudolph legt ein kleinteiliges Mosaik vor, aus dem er sorgfältig die großen Linien herauspräpariert und sie mit eigenen Begriffen übersetzt und anschaulich macht. Man bekommt dabei immer den "ganzen" Neumann oder Marcuse mitsamt Geschichtsphilosophie, politischer Philosophie, Gesellschaftstheorie erklärt, bevor es zur internationalen Politik geht. Insofern ist die Schrift nebenbei auch eine "immanent-kritische" Einführung in die Kritische Theorie.
Die ausgegrabene Kritische Theorie der Internationalen Politik ist keine Analyse im Sinne der Politikwissenschaft, sondern eine konkretisierte Geschichtsphilosophie, wobei die einzelnen Aussagen der Kritischen Theoretiker über die Sowjetunion und die USA, Deutschland und Israel, die antikolonialen Bewegungen, China und den Islam spannend zu lesen sind. Sie behandeln vor allem die Vorgänge während des Kalten Krieges. Ihr historischer Zeitkern ist aber die zwischen 1914 und 1945 zerfallende Welt, insbesondere des liberalen und kapitalistischen Europas sowie der Aufstieg totalitärer Systeme und die alternativlose Lebensform in einer verwalteten Welt mit den Vereinigten Staaten als Machtzentrum und Sinnbild. Manchmal denkt man sie sich gleichwohl als Kommentare zu aktuellen Geschehnissen.
Rudolphs' Blick auf die Politik ist selbst ein philosophischer, von der ÄKT geprägt. Da die gegenwärtige Lage so düster ist, wirkt der finstere Blick auf das Verhängnis tatsächlich realistischer als kantianische Visionen einer demokratischen, rechtsstaatlichen, gerechten und friedlichen Weltgesellschaft, die durch Lernprozesse und vernünftigen Diskurs bestimmt sind. Rudolph ist lieber mit Horkheimer Arrièregardist der verlorenen Freiheit als mit Habermas europäischer Avantgardist des Kosmopolitismus.
Schließlich setzt der Autor selbst zum großen Wurf an: Entlang der Bewegungsmomente Ausdehnung und Kontraktion skizziert er Phasen der Weltrevolution und zeichnet nach, wie sich die horkheimersche "Herrschaftsmaschinerie" global entfaltet hat. Diese Dissertation ist selbst ein Versuch zur philosophischen Rekonstruktion der Weltgeschichte mit dem Fluchtpunkt "Weltsystem". Das ist erfrischend verwegen: Willkommen in der Spätglobalisierung! Wir bestaunen einen neu aufgelegten negativ-historischen Materialismus, der intellektuell und sprachlich jeder Normaldissertation haushoch überlegen ist. Aber kann man tatsächlich heute noch behaupten, eine tief liegende Struktur zu erkennen, nach der die Geschichte abläuft? JÖRG SPÄTER
Moritz Rudolph: "Einheit und Zerfall". Internationale Politik in der älteren Kritischen Theorie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025. 602 S., geb.
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