Besprechung vom 07.10.2024
Das Opfer in der Mülltonne
True Crime oder Roman? Luo Lingyuan rekonstruiert den Mord an einer chinesischen Studentin in Dessau
Am 11. Mai 2016 wurde in Dessau die chinesische Architekturstudentin Li Yángjié brutal ermordet. Der Täter: Sebastian F., arbeitsloser Sohn einer Polizistin, der seine Verlobte dazu brachte, die allabendlich joggende Li in den Flur seines Wohnhauses zu locken. Dort überwältigte er sie, schleppte sie in eine leer stehende Wohnung, vergewaltigte und tötete sie, während die Verlobte ein Stockwerk darüber die gemeinsamen Kinder ins Bett brachte.
Der Fall schlug Wellen nicht nur in China selbst, sondern auch in der chinesischen Community in Deutschland und erreichte schließlich die Schriftstellerin Luo Lingyuan, die seit 1990 in Berlin lebt. ". . . schweren Herzens beschloss ich, zu recherchieren und den Versuch zu unternehmen, den Fall mit erzählerischen Mitteln zu untersuchen, um die Ursachen der Gewalt aufzudecken", schreibt sie in ihrer Danksagung zu "Das Mädchen und der Tod". Auf dem Cover stehen beide Gattungsbezeichnungen nebeneinander: True Crime und Roman.
Dementsprechend nah bleibt Luo am realen Ablauf des Falls und seiner Vorgeschichte, ändert nur einige der juristischen Wasserdichte verpflichteten Details und die Namen: Beginnend bei Yanyans Ankunft in einer mitteldeutschen Stadt namens K. und ihrem ersten Kulturschock, springt die Autorin bald zu Ben, der kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag die berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme des Jugendamtes abbricht. Es entsteht das Porträt eines Jungen mit diagnostizierter Hyperaktivitätsstörung, von den Frauen der Familie verhätschelt und von seinem leiblichen Vater abgelehnt, der erste kriminelle Erfahrungen sammelt und nicht weiß, wohin mit seinem erwachenden sexuellen Verlangen.
Luo Lingyuan erzählt in kurzen, schnörkellosen Sätzen im Präsens, stilistisch irgendwo zwischen Befragungsprotokoll und Drehbuch angesiedelt, und rekonstruiert so einen zeitlichen Ablauf, ein glaubhaftes Abgleiten in immer krassere Gewaltphantasien. Dabei zeigt sich "Das Mädchen und der Tod" aber auch anfällig für das True-Crime-typische Problem mit der Aufmerksamkeitsökonomie: So dunkel faszinierend klaffen die Abgründe des Täters; wie er sein erstes Mal erlebt, indem er eine Bekannte vergewaltigt und mithilfe seiner Mutter davon abbringt, die Tat anzuzeigen, wie er seinem Rivalen die Freundin ausspannt, sie schwängert, sie psychisch und physisch missbraucht und in ein Abhängigkeitsverhältnis zu sich treibt.
Dagegen kann Yanyan nur blass bleiben. Die strebsame Musterstudentin mit gewöhnlichen Sorgen und nicht zu großen Träumen, nah am Mythos der Vorzeigeminderheit, deren Geschichte Luo mithilfe großer Zeitsprünge rafft. Emotional bringt sie Li ihrer Leserschaft so ohne Frage näher, als es die mediale Berichterstattung über "die chinesische Studentin" je vermöchte. Aber zugleich führt sie sie so auch durch ihr gekonnt mithilfe bedeutungsschwerer Cliffhanger und Vorahnungen zugespitztes Narrativ wie ein Lamm ein zweites Mal zur Schlachtbank.
Selbst der True-Crime-Podcast "Schwarz Rot Blut" über rassistisch motivierte Gewalt in Deutschland stellt seiner Folge über den Mord an Li Yángjié bezeichnenderweise eine Triggerwarnung voran, verzichtet bewusst darauf, ins Detail zu gehen - Luo Lingyuan erspart ihrem Publikum wenig. Auch in Yanyans Martyrium behält sie die präzis protokollarische Sprache bei; macht uns zu Mitwissern der Gewalt, der Abgebrühtheit zweier Täter, die ihr sterbendes Opfer mithilfe einer Übersetzungs-App nach Geschlechtskrankheiten befragen.
"Das Mädchen und der Tod" ist ein polarisierender Kriminalroman, seine Stilistik lässt sich diskutieren und unter unterschiedlichen Gesichtspunkten völlig unterschiedlich bewerten. Damit wird er aber auch zum leuchtenden Beispiel dafür, wie Literatur Fragen Raum zu geben vermag, für die in der Realität kaum der gebührende Platz bleibt. War der Mord an Li Yángjié eine rassistisch motivierte Tat? Nein - wenn es nach den Angaben der Polizei und der Hochschule Anhalt in Dessau geht oder nach der untergeordneten Rolle dieser Frage vor Gericht. Zur Wahrnehmung der Betroffenen steht diese Antwort allerdings quer.
Luo Lingyuan verortet die Tat ohne anklagendes Pathos aber dennoch eindeutig in der Historie, dem Straßenbild und der Mentalität der Stadt, in der im Januar 2005 auch Oury Jalloh starb. Sie lässt den Kontext der Nachwendezeit einfließen, beschreibt Leerstand und Verfall, umreißt in knappen und dafür umso prägnanteren Szenen und Dialogen den internalisierten und normalisierten Rassismus, aber auch die emotionale Überforderung im Milieu der Täter. "Bald werden alle wissen, wer hier die Macht hat." Mit Bens selbstzufriedenem Fazit endet "Das Mädchen und der Tod". Darin steckt die bittere Lebensrealität aller Menschen, die sich heute fragen, wie sicher sie sich in Deutschland fühlen können. Und das Dilemma einer Gesellschaft, die sich mit rassistischem Gedankengut und Gewalt in den eigenen Reihen schmerzhaft auseinandersetzen muss. KATRIN DOERKSEN
Luo Lingyuan: "Das Mädchen und der Tod". True Crime. Roman.
Secession Verlag, Berlin 2024.
250 S., geb.
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