Die Handlung spielt an einem Tag im Emsland, in einer provinziellen Kleinstadt, deren wichtigster Arbeitgeber ein Geflügelkonzern ist. Was zunächst nach einer eher trockenen Ausgangslage klingen mag, entpuppt sich als alles andere als langweilig.
Im Zentrum stehen sechs sehr unterschiedliche Figuren: Nassim, ein halbblinder Dichter aus Afghanistan; Rosha, eine iranische Schriftstellerin; Justyna aus Polen, die in der Altenpflege arbeitet; Anna aus Siebenbürgen, die eine selbstentwickelte Kameratechnologie an den Geflügelkonzern verkauft; Merkhausen, Prozessoptimierer im selben Unternehmen; und schließlich Sonia, eine alleinerziehende Mutter, die am Fließband des Konzerns arbeitet.
Kapitelweise wechseln die Perspektiven, sodass man die Ereignisse abwechselnd durch die Augen dieser Figuren erlebt. Ihre Lebenswege kreuzen sich, beeinflussen einander und eröffnen immer neue Blickwinkel. Jede Figur ist facettenreich, einfühlsam und nahbar gezeichnet. Viele haben Migrationserfahrungen, entweder persönlich oder durch ihre Familien. Alle Figuren sind von einer Grundspannung durchzogen: Sie stehen an Wendepunkten, sind unzufrieden, ringen mit den Grenzen ihres Handlungsspielraums, sei es durch ökonomische Abhängigkeit, gesellschaftliche Strukturen, durch familiäre oder kulturelle Prägungen oder durch eigene Lebenserfahrungen. Sie müssen Entscheidungen treffen, Momente des Ausbruchs und kleine Verschiebungen werden sichtbar, auch Überreaktionen.
Besonders faszinierend fand ich die Dichte und Vielfalt der Themen. Neben eindringlichen Einblicken in die Lebensrealitäten der Figuren verwebt die Autorin kunstvoll ein spannendes Kapitel deutsch-polnischer Geschichte, das mir bislang unbekannt war. Ebenso überzeugend sind die gesellschaftskritischen Dimensionen: Fragen von Migration und Integration, Kapitalismuskritik, Tierschutzfragen, die Thematisierung des (mir bislang ebenfalls unbekannten) Wooden Breast-Syndroms, eine Krankheit, die aus der Massentierhaltung hervorgegangen ist. All dies wird nicht belehrend, sondern im Kontext der Figuren und ihrer Schicksale erzählt.
Der Roman ist humanistisch, feministisch, tiefgründig und zugleich unterhaltsam. Das offene Ende wird sicher nicht allen gefallen; für mich passte es jedoch gut, da der Fokus weniger auf einer Auflösung als vielmehr auf einer Momentaufnahme der Figuren liegt. Liebend gern hätte ich allerdings auch weiterlesen wollen.
Insgesamt liest sich das Buch fesselnd, berührend, ernst und zugleich komisch, satirisch, philosophisch und hochaktuell. Ein origineller und klug komponierter Roman,der mich nachhaltig beeindruckt und begeistert hat!