RoshiSie ist gerade aus dem Zug gestiegen und steht im Nirgendwo an einem Bahnsteig. Sprühregen bedeckt ihr Gesicht. Für Köln-Ehrenfeld ist sie richtig gekleidet, aber nicht für Lasseren im Emsland. Laut Handy ist es eine Stunde zwölf bis zu ihrer Pension. Sie läuft über die Fußgängerbrücke zur Bushaltestelle, den Rollkoffer hinter sich herziehend. Der 16 Uhr 5 Bus ist gerade weg. Sie will keine Stunde warten. Also läuft sie die Landstraße entlang. Der Wollmantel hat sich mit Wasser vollgesogen und hängt ihr schwer auf den Schultern. Ein Auto nach dem anderen überholt sie. Sie hofft, dass sie sich nicht erkältet, denn mit schwerem Kopf kann sie Nassim nicht helfen. SoniaWie jede Nacht träumt sie von Hühnern. Als sie mit trockener Kehle in Rückenlage aufwacht, ist es noch stockdunkel. Sie hört Polizeisirenen, quietschende Autoreifen und Schüsse und weiß, dass Leonie am PC sitzt, obwohl sie ihr das an Schultagen verboten hat. Sie versuchte zu atmen, wie die Ärztin es ihr geraten hat, aber die Brust blockiert sie. Sie versucht sich auf das kommende Bewerbungsgespräch zu konzentrieren, will vom Möllringschen Fließband in die Lohnbuchhaltung wechseln. Es ist fast unmöglich für Sonia in Lasseren überhaupt Arbeit zu finden. Sie hat zwei abgebrochene Berufsausbildungen, zwei Kinder, einen Ex-Mann, auf den sie sich nicht verlassen kann. Drei Monate wollte sie maximal in der Geflügelfabrik am Band stehen, aber dann boten sie ihr in dem firmeneigenen Kindergarten einen Platz für Luca an. Nach der Trennung von Christian blieb ihr gar keine andere Wahl. Christians Oma Ruth schickt ihr jeden Monat dreihundert Euro für die Kinder. Sie würde die Kinder gerne öfter zu Ruth bringen, auch über Nacht. Dann könnte sie sich einmal wieder richtig volllaufen lassen, im Morgengrauen nach Hause wanken, sich etwas aus dem Kühlschrank in den Mund stopfen und angezogen aufs Bett fallen, aber Ruth vergisst die Namen von Leonie und Luca und spricht nur noch von Polen. Fazit: Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi hat sich mit den gesellschaftlichen Fallstricken auseinandergesetzt. Sie verhandelt die mangelnde Empathie für die Mitmenschen, deren Leben nicht in geordneten Bahnen verläuft. Da ist der fast blinde Nassim, der gerade den beschwerlichen Weg aus seiner Heimat Afghanistan hierher genommen hat. Er möchte die deutschen Einwanderungsbehörden mit seinen Gedichten davon überzeugen, dass er einen gesellschaftlichen Wert hat. Dabei soll ihm die deutsch-iranische Autorin Roshi helfen. Die Polin Justyna ist zwanzig Jahre älter als Nassim und fühlt sich körperlich von dem feinfühligen Mann angezogen. Sonia arbeitet Vollzeit am Fließband und ist mit Alltag und pubertierender Tochter heillos überfordert. Die junge Ingenieurin Anna soll die Geflügelfleischproduktion optimieren und trifft auf alte weiße Männer in den Führungsetagen. Einer davon, Peter Merkhausen, der einen Faible für polnische Frauen hat. Die Autorin hat ein herrlich alltägliches Montagsszenario geschaffen und alle ahnungslosen Beteiligten miteinander verbunden. Sie zeigt anhand diverser Vorfälle die großen und kleineren Probleme ihrer Darsteller, die statt Mitgefühl zu erzeugen von ihren Mitmenschen gemobbt werden. Die gesellschaftliche Verrohung, jeder ist sich selbst der Nächste, ist gut eingefangen. Ganz nebenbei hat sie ein wichtiges Stück polnischer Geschichte im Emsland aufgearbeitet. Trotz der verschiedenen Themen ist die Autorin ihren Figuren und deren Weg treu geblieben. Und das hat mir gut gefallen.