Christoph Poschenrieder begibt sich auf Spurensuche im Leben seiner Großtante Hedwig, Jahrgang 1884. Wenig ist zunächst bekannt über die Frau, die zeitlebens alleinstehend blieb, überaus fromm war und bereits als junge Frau zunehmend nervenkrank wurde. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, wird dies für Hedwig lebensbedrohlich.
Poschenrieder stützt sich bei seiner Recherche vor allem auf die Aufzeichnungen von Hedwigs Schwester Marie und Briefe. Da diese vor allem die frühen Jahre abdecken, bleibt ein großer Teil von Hedwigs Leben im Dunkeln bzw. spekulativ. Der Autor macht jedoch stets kenntlich, wo er sich auf Quellen bezieht und wo er behutsam eigene Vermutungen anstellt.
An Hedwigs Leben wird deutlich, welchen enormen Einfluss damals die Kirche besaß, sowohl als gesellschaftlich als auch in Bezug auf die persönliche Entwicklung insbesondere junger Frauen. Kirchliche Moralvorstellungen trugen massiv zur systematischen Unterdrückung von Frauen bei und waren Teil der patriarchalen Strukturen. Generell hatten Mädchen zurückzustecken und, wenn nötig, zum Familieneinkommen beizutragen, um den männlichen Geschwistern ein Studium zu ermöglichen. Das wurde als so selbstverständlich wahrgenommen, dass den Brüdern später nicht einmal in den Sinn kam, sich dankbar zu zeigen und sich ihrerseits um die Schwestern zu kümmern. Hedwig steht so exemplarisch für viele Frauen ihrer Generation, die qua Geschlecht in besonderem Maße fremdbestimmt und in den Möglichkeiten, die sich ihnen boten, benachteiligt waren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches ist Hedwigs sich mit den Jahren verschlimmernde psychische Erkrankung, die sich während des Nationalsozialismus zu einem großen Risiko entwickelt. Auch hier wird an Hedwigs Beispiel der menschenverachtende Umgang der Nazis mit Nervenkranken deutlich.
Man spürt, wie nahe Christoph Poschenrieder das Schicksal von Hedwig geht, und sein feinfühliger, ruhiger und nachdenklicher Schreibstil gefiel mir auf Anhieb. Gerade die sachliche, um Authentizität bemühte Herangehensweise hat mich mehr berührt als dies ein historischer Roman gekonnt hätte.