Interessante Erzählweise meets kühlen Erzählstil und realistische Darstellung einer psychosomatischen Klinik.
Anna will nicht mehr leben. Ihr Plan, sich mit dem Fahrrad von einem Auto erfassen zu lassen, misslingt und so landet sie in der Hans-Lewitt-Klinik, einem Sanatorium für psychisch Kranke. Dort begegnet sie anderen Frauen, die wie sie mit tiefen Verletzungen und Verlusten ringen. Da ist Elif, die ihre Trauer in immer neuen Märchenbildern erzählt. Marija hält lange Monologe über ihre verstorbene Mutter. Katharina, eine Soldatin, greift zum Alkohol, um Erinnerungen zu verdrängen.Zwischen Medikamenten, Therapiesitzungen und Routinen versucht Anna, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Halt findet sie merkwürdigerweise bei einem Flamingo im Klinikpark, dem sie ihre Gedanken über ihre Kindheit, über das Auswandern und über ihre Sehnsucht nach Glück anvertraut. Doch die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Erinnerung und Einbildung verschwimmen immer stärker.___Ich war besonders gespannt auf diesen Roman. Großen Respekt habe ich vor der Autorin, die das Leben in einer Klinik beschreibt, ohne die altbackenen Klischees einer Irrenanstalt zu bedienen, die Menschen nur abschrecken und Angst machen. Sehr eindrücklich fand ich, wie deutlich wird, woher die seelischen Wunden der Frauen kommen, das ist nachvollziehbar beschrieben. Auch der Tagesablauf und die Veranstaltungen sind realistisch geschildert.Die Geschichte der vier Frauen wird nacheinander erzählt. Niemand fragt direkt nach dem Grund, warum jemand in der Klinik ist, doch nach und nach erfährt man es indirekt. Besonders Anna selbst lässt dabei tief durchblicken. Sie setzt sich mit ihren Mitpatientinnen auseinander und gibt deren Geschichten so wieder, wie sie sie von ihnen hört, immer mit der Unsicherheit, ob alles wirklich so geschehen ist. Diese schriftstellerische Herangehensweise fand ich sehr interessant. Unterstützt wird das Ganze durch die Sprache, die die jeweilige Erkrankung widerspiegelt und die Stimmen der Frauen unverwechselbar macht. Eindrucksvoll ist zudem, wie Annas eigene Herkunft eingeflochten wird: ihre Kindheit in Russland, die Migration nach Deutschland und das Gefühl des Fremd-Seins, das sie bis heute begleitet.Und dennoch bleiben meine Gefühle für den Roman zweigeteilt. Anna war mir nicht wirklich nah. Ab und an fiel es mir schwer, die vier Frauen klar auseinanderzuhalten und die Geschichten nicht durcheinanderzubringen. Die Krankenschwester spricht und handelt für mich so unsensibel, dass es kaum vorstellbar ist, solches Personal dort anzutreffen. Vor allem aber habe ich mir mehr Gefühl versprochen. Vielleicht ist es jedoch besser, diese Themen mit Distanz und Klarheit zu beschreiben, sonst hätten sie einer deutlichen Triggerwarnung bedurft.