
»Ein Buch, wie es kaum jemals in einem Jahrhundert geschrieben wird. « Péter Nádas
András, der Erzähler, jüngstes von sieben Kindern, liebt seine tapfere Mutter Julia über alles - wo sie ist, lauert das Glück, egal, was geschieht. Vier Jahre lang zieht sie mit ihren Kindern in der ostrumänischen Steppe umher - sie wurden »ausgesiedelt«, nachdem der Vater, ein Pastor, zu 22 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Sie richten sich in Erdhöhlen ein und in verlassenen Dörfern, beaufsichtigt von den Behörden. Sippenhaft.
»Ich merke mir alles und werde über alles schreiben, wenn die Zeit gekommen ist, sage ich zu unserer Mutter, um sie zu trösten, als ich sie beim Weinen ertappe, schreiben verwende ich als Synonym für rächen, ohne zu wissen, was ich sage. « Jahrzehnte später findet Visky den gleichmütigen, zuweilen heiteren Ton, die leuchtenden Bilder und die Form: 822 durchnummerierte Minikapitel, die Atemzügen gleichen.
Der Entschluss, umeinander zu kämpfen, »solange die Seele mich trägt«, verbindet die Eltern, tiefgläubige, einander leidenschaftlich liebende Menschen, deren Haltung sich ihren Kindern unauslöschlich einprägt. Der Gewalt des kommunistischen Staates setzen sie ihr NEIN entgegen. Wie sich die Phantasie mit der Liebe verbündet: gegen die Wirklichkeit und gegen die Versuchung, böse zu werden - das ist so noch nie erzählt worden.
Besprechung vom 11.10.2025
Wer tröstet den Allmächtigen?
Vom Menschen zum Fuchs: András Visky erzählt von der langen Lagerhaft seiner rumänischen Familie.
Von Tilman Spreckelsen
Von Tilman Spreckelsen
Als Julia, die Frau eines kurz zuvor inhaftierten Pfarrers, mit ihren Kindern im Arbeitslager Rachitoasa in der rumänischen Baragan-Steppe angekommen ist, gibt es keine Unterkunft für die Familie. Andere Lagerbewohner haben sich deshalb Höhlen in die Erde gegraben, wobei immer wieder die Knochen früherer Häftlinge zum Vorschein kommen. Ein Insasse namens Grüber übernimmt es dann, die Knochen zu ordnen, zu identifizieren und zu verstauen. Grüber hilft Julia, sich zurechtzufinden, und irgendwann bietet er ihr an, mit ihren Kindern in seine Höhle zu ziehen. Das gehe nicht, wehrt Julia freundlich ab, denn sie liebe ihren Mann. Er liebe seine Frau doch auch, sagt Grüber, und natürlich seine Kinder. Die seien immer bei ihm - dann führt er Julia in einen Winkel der Behausung zu den säuberlich aufbewahrten Knochen seiner Familienmitglieder. Dass Julia sich auch davon nicht umstimmen lässt, scheint Grüber zu verwundern.
Der rumänische Schriftsteller und Dramaturg András Visky beschreibt in seinem Roman "Die Aussiedlung", im Original 2022 und nun auf Deutsch erschienen, wie nach der Verhaftung seines Vaters, dessen Kirche von der rumänischen Geheimpolizei offenbar als Widerstandsnest identifiziert worden war, auch die zurückgelassene Familie deportiert wird. Wo der Vater inhaftiert ist, weiß die Familie nicht, und es fehlt nicht an Stimmen, die dazu raten, nicht mehr mit seiner Wiederkehr zu rechnen. Sie erreichen das Gegenteil.
Julia und ihre Kinder müssen während seiner Gefängniszeit - er wurde zu 22 Jahren Haft verurteilt - nacheinander in zwei Arbeitslagern leben, unterbrochen nur von einem kurzen Aufenthalt in einem Dorf bei Temeswar, wo die Kinder zur Schule gehen sollen und Julia während der Verhöre ihren schlimmsten Albtraum erlebt.
In einer Vorbemerkung nennt Visky, geboren 1957 als jüngstes der sieben Kinder des Paars, das Buch "eine Fiktion". Es sei "der Phantasie eines irgendwie erwachsen gewordenen Kindes entsprungen, das seine mehrjährige Gulag-Erfahrung einfach nicht von seinen Phantasmen zu trennen vermag". Diese Warnung davor, das Buch als Tatsachenbericht zu lesen, hat natürlich ihre Berechtigung, auch weil sich die eigentliche Lagerhaft - "Die Aussiedlung" handelt allerdings auch zu einem guten Teil vom Schicksal der Familie danach - auf eine Zeit erstreckt, in der Visky noch keine zehn Jahre alt gewesen ist: Julia und ihre Kinder wurden 1964 entlassen, im selben Jahr kam der Vater aus dem Gefängnis frei. Zugleich aber hat der Autor, der sich sechzig Jahre zurück in die Vergangenheit begibt, offenbar ausgiebige Archivstudien betrieben und zieht glücklich erhaltene Protokolle oder schriftliche Anordnungen der Staatsmacht hinzu, um seine Geschichte dort zu beglaubigen, wo es geht. Von den Gesprächen innerhalb der Familie ganz abgesehen.
Was Visky schildert, ist entsetzlich genug, weil die Familie vor, während und auch noch lange nach der Haft vollständig der Willkür derjenigen unterworfen ist, die im Staat bis hinunter in die kleinste Siedlung das Sagen haben - und im Arbeitslager sowieso. Es bleibt nicht aus, dass Weggefährten des beispiellos unbeirrten Pfarrers, der sich jedes Mal von seinen Kindern verabschiedet, als wäre es für immer, die Seiten wechseln, und als er während einer ausgedehnten Folter, die er erleidet, einen Bekannten unter seinen Peinigern erkennt, ist das keine große Überraschung.
Allerdings setzt das Buch ein mit dem Entschluss einer jungen Frau namens Marica, genannt Nényu, ihren eigentlich zweiwöchigen Aufenthalt bei der Pfarrersfamilie auf unbestimmte Zeit zu verlängern, trotz deren schwieriger Lage. Später wird sie aus freien Stücken Julia und ihre Kinder in alle Lager begleiten und schließlich, als die entkräftete Pfarrersfrau zu sterben droht, die Fürsorge für die sieben Kinder übernehmen.
Die größte Gefahr, neben der Sorge um Leib und Leben, ist die der schleichenden Zerstörung der Familie. Dem begegnet Julia, indem sie im Lager ausgiebig vom Vater erzählt. Beim Wiedersehen muss er, der in der Haft alle Zähne eingebüßt hat, seine Kinder erst wieder kennenlernen, einen älteren Sohn, der sich im Lager beim Hantieren mit Chemikalien fast blind gesprengt hat, einen jüngeren, der an Kinderlähmung erkrankt ist und nur noch humpelt, und deren weitere fünf Geschwister.
Für all das wählt Visky eine Form, die sofort überzeugt, weil sie tatsächlich abbildet, was der Autor unternimmt: die hartnäckige Suche nach Erinnerungen, nach Bildern aus der Lagerzeit, die sich vor allem als Fragmente zeigen, als einzelne Schnappschüsse mit vergilbenden Rändern. Visky fügt 822 kurze, oft nicht einmal eine halbe Seite lange nummerierte Abschnitte aneinander, gegliedert in auch nicht sehr umfangreiche Kapitel. Einige schließen aneinander an, andere sind ganz solitär, aber zufällig ist die Ordnung keineswegs. Ihre Offenheit in beide Richtungen aber unterstreicht Visky, indem er sie weder mit Großbuchstaben beginnt noch mit Satzzeichen abschließt - kein Gedankenstrom, aber ein in viele Erinnerungssteinchen aufgelöstes Mosaik.
Dass sich Visky seiner literarischen Vorgänger bewusst ist, zeigt eine Reihe von dezenten Anspielungen, wenn er etwa davon spricht, im ersten Lager erkannt zu haben, dass es so etwas wie Schicksal für die Insassen nicht gebe. Er ist ein "Schicksalsloser" wie der ehemalige Häftling Imre Kertész.
Weitaus mächtiger aber ist der Einfluss der Sprache der Bibel, der Familie sowieso geläufig, vom jüngsten Sohn aber kreativ auf die Dinge angewandt, die ihn umgeben. Dass der Vater mitunter Bibelverse assoziativ ausspricht und erst anschließend darüber nachdenkt, wie sie in die Gesprächssituation passen könnten, steht gleich am Anfang des Buches. Dass die Familie angesichts der eigenen Aussiedlung, der Vertreibung aus der Wohnung an den Lukas-Satz vom Menschensohn, der keinen Platz für sein Haupt habe, denken könnte, liegt also nahe. Weil aber Jesus zuvor von den Füchsen spricht, die ihre Höhlen hätten, geht der Vergleich noch weiter: Indem die Familie im Lager in einer Grube hausen muss, ist sie auf den Stand von Füchsen zurückgeworfen.
Wo aber bleibt Gott in diesem jahrelangen Elend? Der Allmächtige sei selbst untröstlich, sagt Nényu, denn "die Welt hat eine Wendung genommen, mit der er kein bisschen gerechnet hat". Nicht nur für die Kinder der Familie Visky fragt sich, ob man dann nicht besser ohne ihn auskommt.
András Visky: "Die Aussiedlung". Roman.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 456 S., geb.
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