Im Haus eines Ornithologen geht eine Schriftstellerin den Abgründen der Schriftstellerei auf den Grund. Es geht ihr dabei ums Ganze. Denn ihre zutiefst eigene Symphonie des Schreibens ist bedroht. Vogellaute und geflügelte Wesen gehören zum vielstimmigen Orchester dieses sprachmächtigen neuen Romans von Brigitte Kronauer, in dem Kunst und Schicksal eine einzigartige Symbiose eingehen.
Ein Haus im Wald mit blauen Schlagläden. An den Wänden Schautafeln, über und über mit Vögeln bedeckt, im lichten Geäst der Stämme Vogelgezwitscher. Der Schriftstellerin, die vorübergehend im Haus des Ornithologen lebt, will mit ihrem Roman nicht recht vorankommen. Stattdessen drängen sich ihr die Vögel des Waldes auf, und bald schon schälen sich aus ihnen die Gesichter von Freunden und deren Geschichten: die Schönen, die Schäbigen und die Schwankenden. Unbehelligt verfasst sie eine Geschichte nach der anderen, bis es eines Nachts an die blauen Schlagläden klopft und der Ornithologe sein Haus zurückfordert. Befand sich die Schriftstellerin gerade noch in einer magischen Parallelwelt, führt dieser Umbruch zu einer radikalen Hinterfragung der eigenen Existenz. Filigran und machtvoll webt Brigitte Kronauer ein engmaschiges Netz bedrohter Subjekte und stellt als dessen Höhepunkt das Schriftstellerleben selbst auf den Prüfstand.
»Brigitte Kronauer leuchtet tief in die Sedimentschichten hinein, aus der die beiden großen Sphären der Welt bestehen, die menschliche Innenwelt und die weite Landschaft, und blendet sie ineinander. «
Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung
Besprechung vom 15.08.2019
Der ungenaue Doppelgänger liegt schon auf der Lauer
Spurensuche im Alltag: In ihrem letzten Roman legt Brigitte Kronauer dem Leser Lebensläufe zur Prüfung vor.
Franziska ist nicht mehr jung, bei weitem aber noch nicht alt genug, um der Liebe zu entsagen, den Eroberungen, auch wenn das mit den Jahren weniger geworden ist. Doch jetzt, als sie in Rom, das sie nach langer Zeit ein weiteres Mal besucht, auf einem Mäuerchen sitzend plötzlich die "perfekte Beute" in Gestalt eines jungen Adonis bemerkt, meldet sich in ihr "ein vertrautes Zittern, noch einmal das Vibrieren, die siegesgewisse Anspannung vor dem Sprung". Als der junge Römer, der eigentlich schon vorbeigelaufen war, dann tatsächlich kehrtmacht und sich in ihre Nähe setzt, durchzuckt sie ein " ungläubig wahrgenommener, glücklicher Schmerz. Die längst verschollene Erinnerung blähte die gegenwärtige Sekunde." Sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, sieht sie, wie der Adonis auf ein vorbeifahrendes Moped springt - mit ihrer Tasche.
Franziska, ein Mensch an der Schwelle zum Entsagen, dem das frühere Glück noch einmal trügerisch winkt, eine "Betrogene" wie die Hauptfigur aus Thomas Manns Novelle, nur mit einem gänzlich anderen Resultat des Betrugs, denn Franziska stirbt nicht daran, sondern zieht sich zurück, verlässt ihr Bett kaum noch und macht vielleicht sogar ihren Frieden damit.
Ihre Geschichte ist Teil eines größeren Projekts, dem sich im jüngst erschienenen Roman "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" der gerade achtundsiebzigjährig verstorbenen Autorin Brigitte Kronauer (F.A.Z. vom 24. Juli) die Schriftstellerin Charlotte widmet. Sie ist in der Hütte zweier begeisterter Ornithologen untergekommen, die gerade Südamerika bereisen, und lebt nun zwischen Bildern, die unterschiedliche Vögel darstellen. Wenn sie hier von Menschen träumt, dann schwirren diese durcheinander und "zwitschern" geradezu wie Vögel, und in den Bildern sieht sie wiederum menschliche Gesichter aufscheinen - Freunde, flüchtige und alte Bekannte: "Schließlich waren es nicht mehr die Geflügelten, die über mich regierten, es waren die Menschen, die durch sie hindurchstarrten und die sich jetzt unbedingt entfalten wollten. Dafür benötigten sie Platz, wischten ohne Rücksicht Vögel und ,Handlung' beiseite und beehrten mich, den offenbar geeigneten Landeplatz für ihre Ausuferungen, voller Beschwerden, Wichtigtuereien und Ticks, rund um die Uhr mit ihrer Anwesenheit, die ich meines Berufs wegen schriftlich beglaubigen sollte."
Das tut die Autorin dann auch, allerdings mit dem festen Willen, sich von den andrängenden Gestalten nicht unterjochen zu lassen. Um den Stoff, den diese Erinnerungen an Menschen nun für sie darstellen, einigermaßen in den Griff zu bekommen, gliedert sie ihn in die drei Kategorien, die dem gesamten Roman den Titel geben: Je dreizehn Biogramme sollen erstens "das Schöne" beschreiben, also den allmählichen Aufstieg der Porträtierten "aus der normalen Lebenstrübnis zur lichten Offenbarung", zweitens "das Schäbige" in umgekehrter Lebensbahn, die übrigen dreizehn dann "das Schwankende", eine Entwicklung, die Menschen erst nach oben und dann nach unten führt, "in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienten". Nur dass die Autorin feststellt, dass sich das Schema nicht einhalten lässt, dass alles durcheinandergerät, so dass für den Leser, der nach der knappen Einleitung nun mit "Die Vögel" das zweite, bei weitem umfangreichste Kapitel des Romans liest und dort tatsächlich 39 Biogramme findet, von der listigen Autorin mit der Entscheidung alleingelassen wird, wie nun die einzelnen Geschichten einzuordnen sind, nachdem sie ihn einmal dazu gebracht hat, solche Kategorien überhaupt zu suchen.
Formal erinnert das an Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel" aus dem Jahr 2013, in dem die Schicksale ihrer Patienten auf die Physiotherapeutin Elsa in ähnlicher Weise drängen und als Ansammlung von Miniaturen ein Panorama ergeben. Hier hält nicht nur das Auge der eingschobenen Autorin Charlotte für die Vogelähnlichkeit der von ihr Porträtierten dieses Kapitel zusammen, das nun eine Ansammlung von menschlichen Schwänen, Kolibris, Amseln, Dompfaffen oder Ringeltauben präsentiert, sondern damit durchaus verbunden auch das Interesse an der Frage, warum uns ein Mensch bezaubert, wann genau dieser Zauber wirkungslos wird und was aus den ehemaligen Charmeuren wird, wenn der Bann erst einmal gebrochen ist. Wer sich, im Bewusstsein seiner Wirkung, alles erlaubt, fällt dann umso tiefer, und Charlotte widmet sich solchen Fällen, besonders aus dem Kulturbetrieb, mit dem mitleidlosen Blick derer, die sich schon mit dem vorherigen Verhalten der Paradiesvögel nicht zufriedengeben konnte. Sehr viel gnädiger fällt die Beschreibung eines Herrn aus, der offenbar noch im Altenheim die Rolle des Bezauberers weiterspielt und miterleben muss, wie sich diejenigen, die an seinen Lippen hingen, von ihm abwenden, als die Glocke zum Abendessen mitten in einem seiner ausufernden Vorträge läutet. Charlotte beschreibt Liebende, die sich plötzlich entfremden, Verwandte, die sich eigentlich nicht kennen, aber auch Menschen, die sich unerwartet solidarisch zeigen und die im Zweifel die Augen auch vor den entsetzlichen Taten derjenigen verschließen können, denen sie einmal nahe waren.
Auch in den übrigen Großkapiteln des Romans geht es um das Schreiben Charlottes und um die Frage, wie die erfahrene Realität abgebildet werden kann, wenn sich doch diese Erfahrungen als unsicher bis geradezu widersprüchlich erweisen können - die Erzählerin jedenfalls verwendet eine Sprache von fast demonstrativ klassischer Ruhe und macht dabei wenig Unterschiede zwischen den Stillagen der einzelnen Figuren, zwischen dem Bericht eines Zwölfjährigen und den Dialogen zweier älterer Frauen. "Stets liegt ein ungenauer Doppelgänger auf dem Sprung", heißt es einmal über das Schreiben, und dass es dabei nicht zuletzt um das Maß an Distanz zwischen dem Schriftsteller und seinem Gegenstand geht, wird ebenfalls rasch klar.
Teilhabe und Außenseitertum sind das zentrale Thema des Bandes, und Kronauers Sprache, die bei aller Klarheit oft genug den Figuren, Ereignissen, Konstellationen und auch finalen Wendungen ihr Rätsel lässt, erweist sich als beglückend geeignet, dies von allen Seiten zu beleuchten. Wie weit man sich auf die Welt einlässt (und: auf welchen Teil von ihr), so zeigen es die kürzeren und längeren Porträts dieses Bandes, hat nicht unbedingt etwas mit dem Lebensalter zu tun.
Das abschließende Kapitel des Bandes, das einzige, in dem Charlotte als Erzählerin eine fremde Perspektive einnimmt, lässt einen Greis davon berichten, wie sich Vergangenheit und Gegenwart in ihm gegenseitig beleuchten und sich ihm seine Umgebung im Licht des Isenheimer Altars erschließt. Ob das, im Ordnungssystem Charlottes, nun schön, schäbig oder schwankend ist, hängt vom Betrachter ab.
TILMAN SPRECKELSEN
Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende". Romangeschichten.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 596 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.