Dieses Buch ist so vieles für mich: Liebesgeschichte, Mutter-Tochter-Entwicklungsroman, Coming of Age, Anregung zur Geschichtsstunde und Betrachtung des Atlas, Fenster zu einer anderen Kultur, Musiktipp, Perspektivwechsel,...
Christina Fonthes lässt ihre Hauptfiguren Mira und Bijoux abwechselnd erzählen udn wechselt auch die Zeitebenen mehrmals. Bijoux sind wir dabei als LeserInnen näher, weil ihre Geschichte in der Ich-Perspektive geschrieben ist, Mira wird quasi aus der Vogelperspektive betrachtet, was gut zu ihrer späteren Distanzierheit und Abgetrenntheit von ihren eigenen Gefühlen passt. Mira ist in den 1980er Jahren ein lebenslustiger und draufgängerischer Teenager in Kinshasa, Zaire (heute demokratische Republik Kongo). Sie verliebt sich in einen mittellosen Musiker, wird schwanger und von ihrem Vater aus Rücksicht auf seine Kampagne zur Wahl des Gouverneuers von Kinshasa verstoßen. Ohne ihre Tochter, die bei ihrer Schwester Eugenie in Kinshasa aufwächst lebt Mira - Mireille-von nun an ziellos und zum Teil in großer Armut in Brüssel, Frankreich und London. Von Männern wird sie immer wieder verraten oder verletzt, die rigiden Moralvorstellung, die Mira in Zaire aufgesogen hat und in den afrikanischen Communitys in Europa weiterlebn schnüren Miras Möglichkeiten zu lieben, zu leben, zu arbeiten und letztlich auch ihr eigenes Denken ein. Immer wieder taucht an Stellen, die mir Miras Traumata, ihrer Angst und Enge zusammen hänten ein Falter auf, der ihr Sprache und Hoffnung nimmt. Dieses Schweigen und Abgetrenntsein von Gefühlen nimmt auch Bijoux, ihre leibliche Tochter, wahr, der die Existenz ihrer "Tante" bis zum Alter von 12 Jahren verschwiegen wurde. Nach Unruhen in Kinshasa wird Bijoux zu Mira nach London gebracht, wo sie- ihr völlig unverständlich- von von Eugenie und Sylvain, die sie als ihre Eltern kennt, nicht mehr zurückgeholt wird. Die sprach- und lieblose Atmosphäre bei Mira und die Regeln der evangelikalen Gemeinschaft, in der sich vieleAfrikaner in London treffen führen dazu, dass Bijoux denkt, ihr Lesbisch Sein sei falsch und nicht lebbar.
Trotz dieser bedrückenden Geschichte habe ich hier - auch - ein fröhliches Buch gelesen. Musik, Tanz, Mode, Geruch und GEnuss beim Essen fehlt auch in den trübsten Momenten der Hauptfiguren nie völlig. Viele Einsprengsel der afrikanischen Sprache Lingala geben der ohnehin schon bunten und sinnlichen Sprache einen eigenen Sound. Als Bijoux in einer unglücklichen Ehe schwanger wird, können sich schließlich beide Hauptfiguren zum Teil befreien und durch eben diese Befreiung einander näher kommen. Beide werden unter denkbar komplizierten und traumatisierenden BEdingungen Mutter und erleben in ihrer Rolle als Tochter Einsamkeit und Verzweiflung. Wie berührend, dass sie es schaffen, ihr Mutter und Tochter-Sein doch mit liebevollen Parallelen zu leben (Bijoux hat schließlich mit Mama Eugenie umd Mama Mira zwei Mütter, Bijoux' Tochter wird mit ihr und ihrer Partnerin Chancey ebenfalls zwei Mütter haben) - und der Falter schlussendlich gemeinsam mit Miras Schweigen fortfliegt.