Poschenrieder, Fräulein Hedwig
Klappentext:
Hedwig ist eine unverheiratete Frau, die auf dem Land als Grundschullehrerin arbeitet. Doch schon in jungen Jahren meldet sie sich immer häufiger krank. Der Pfarrer sieht in ihr eine verirrte Seele, der Arzt eine Nervenkranke und die Familie versteht sie nicht. Hedwig führt ein stilles, einsames Leben an der Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Umso mehr verstören ihre Ausbrüche die Menschen um sie herum. Unter der NS-Diktatur schließlich ist sie als psychisch kranke Frau ihres Lebens nicht mehr sicher.
Mein Lese-Eindruck:
Der Autor wendet sich einer Person zu, die er persönlich nicht kennen konnte: seiner Großtante Hedwig, geboren 1884, gestorben 1944, und von der sein Großvater sagte: Die haben wohl die Nazis auf dem Gewissen. Dieser Satz macht neugierig, und auch der Autor wurde neugierig und setzte sich auf die Spuren seiner Großtante. In akribischer und umfangreicher Quellenarbeit zeichnet er ihr Leben nach, und dort, wo die wenigen Quellen keine Auskunft geben, führt er seine Vermutungen an, um ein möglichst rundes Bild zu vermitteln. Und beweist schließlich, dass seine Großtante tatsächlich ein Opfer der organisierten Krankentötung (Euthanasie) geworden war.
Poschenrieder will keine Spannung aufbauen. Schon im ersten Satz erlebt der Leser Hedwig in ihrer Verwirrtheit, und mit dem Satz des Großvaters im Kopf ahnt er Hedwig Poschenrieders Schicksal. Hedwigs Biografie verläuft zunächst wie so viele andere dieser Zeit auch, aber Poschenrieders subtile Erzählweise macht deutlich, welche gesellschaftlichen und familiären Zwänge für junge Frauen galten, denen ein individuell bestimmtes Leben nicht zugebilligt wurde. Es wird deutlich, dass Hedwig Poschenrieder zu instabil war, um diesen Zwängen standzuhalten.
Der Autor verzichtet dabei auf allgemeine Belehrungen zur Zeitgeschichte. Stattdessen bleibt er immer unmittelbar an seiner Figur, und es sind oft nur kleine, manchmal ironische Bemerkungen, mit denen er sie in die Zeitgeschichte einbindet. Dieses empathische und zugleich eher berichtende Erzählen hat mir sehr gut gefallen, weil es dem Roman sehr eindringlich macht zusammen mit Poschenrieders Sprache, die immer unaufgeregt und leise, niemals laut und dramatisch, aber immer präzise und ausgewogen ist. Dass er gelegentlich abschweift, sei ihm daher verziehen.
Mit der Geschichte seiner Großtante holt Poschenrieder die Geschichte eines fast vergessenen Menschen wieder in die Gegenwart, eines Opfers der Nazi-Ideologie, stellvertretend für so viele andere. Er klagt jedoch nicht an, er hebt nicht seinen moralischen Zeigefinger, zumindest nicht expressiv verbis; aber in seinem Nachwort wird er deutlich: Es ist schlimm genug, dass die meisten Täter und Täterinnen der organisierten Krankentötung namenlos geblieben sind. Wie wahr. Namenlos, straflos, weiter in Amt und Würden. Wie so viele NS-Täter.
4,5/5*