Mehr als 29 Jahre nach der Ermordung ihrer Schwester Liliana im Jahr 1990 begibt sich die Autorin auf die Suche nach deren Akte bei der Staatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt. Zusammen mit einer Freundin wird sie in kafkaesker Weise von Amt zu Amt geschickt, am Ende ist jedoch die Akte nicht mehr auffindbar. Das ist der Moment, in dem Cristina beschließt, schreibend der Schwester nachzuspüren, ihre Existenz durch die vielen Zeugnisse materieller und immaterieller Art zu rekonstruieren, die sie hinterlassen hat. Schon immer hatte sie Briefe und Aufzeichnungen verfasst, die sie sorgfältig aufbewahrte. Diese stehen Cristina zur Verfügung, um Lilianas Leben zu dokumentieren, außerdem spricht sie mit Freunden und Kommilitonen sowie vielen, die sie gekannt hatten. Die junge Frau war voller Energie, Lebenslust, Liebe, hatte viele Freunde, eine große und warmherzige Familie, und sie war eine sehr gute Architekturstudentin. Eine freie Frau. Liliana darf nicht vergessen werden.
Liliana fiel einem Mörder in die Hände, den sie für ihren Freund hielt und der für das Verbrechen nie vor Gericht gestanden hat. Cristina Rivera Garza nennt seinen vollen Namen, Ángel Gonzáles Ramos, und zeigt ein Foto aus der Zeit des Mordes, mit dem nach ihm gesucht wurde. Schon früh zeichnete sich das Verhängnisvolle der Beziehung zwischen ihm und ihrer Schwester ab, Liliana wurde gedemütigt, bedroht, vergewaltigt, doch eine Befreiung gelang ihr nicht.
Im schlimmsten Winter merkte ich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer war schrieb Liliana einer Kommilitonin, um diese zu trösten. Das Motto von Albert Camus ist in einem etwas anderen Wortlaut dem Buch vorangestellt. Lilianas unvergänglicher Sommer, das ist ihre Lebenslust, ihr Optimismus, mit dem sie sich dem Schatten, den ihr Freund auf ihr Leben wirft, entgegenstellt. Die Freiheit // ist das Wichtigste im Leben (183) sagte Liliana, als sie einem gefangenen Spatz die Freiheit schenken wollte. Doch er starb wie sie später. Kurz vor ihrem Tod, nach einer endgültigen Trennung von Ángel, spürt sie Angst, kann jedoch nicht glauben, dass er fähig wäre, ihr etwas anzutun. Sie wurde mit nur 20 Jahren ermordet, das Entsetzen und die Trauer prägen ihre Familie und ihre Freunde ein Leben lang. Cristina vermisst Liliana jeden Tag, und jede Stunde in jedem Tag. Jede Minute in jeder Stunde. Jede Sekunde. (297) Der Schmerz ist unendlich groß und er ist immer da. Wenn Cristina ins Wasser taucht, glaubt sie, Lilianas Gegenwart darin zu spüren.
Das Buch legt Zeugnis ab von einem Leben voller Vorfreude auf das, was es bringen sollte. Es ist angereichert mit Schwarz-Weiß-Fotos von Liliana und ihrer Schwester, eingefügt sind die Briefe, die Liliana an Freunde und Verwandte verfasst hat. Und es weitet Lilianas Schicksal aus in das gesellschaftliche Problem der gewaltvollen Beziehungen, die zu oft zu Victim Blaming führen. Nichts in dem, was die Frauen an sich haben, wie sie leben, sich kleiden, was sie tun, rechtfertigt Gewalt gegen sie, das ist Cristina wichtig.
Das alles macht das Buch zu einer emotional aufwühlenden Lektüre, nicht leicht zu lesen, auch weil die eingefügten Briefe in einer sehr kleinen Schrift gedruckt sind. Ein wichtiges, sehr persönliches, ehrliches Buch. Unbedingt empfehlenswert.