»Alice im Wunderland fürs 21. Jahrhundert. « Frank Hertweck, SWR Lesenswert
Karen sucht ein WG-Zimmer und landet in einer Band, von der nur der Name existiert. Mit PUNK wollen Lambert und Ezra beweisen, dass das immer noch geht: mit drei Akkorden ohne groß Aufhebens Musik machen und dabei eine coole Figur abgeben. Ein Wettbewerb steht an und Karen soll dem rauen Duo mit ihrer Kopfstimme intellektuellen Schliff verleihen. Lambert, klassischer Nerd, ist für technische Details zuständig, während der romantische Analogiker Ezra Original-Instrumente aus der Punk-Zeit beisteuert. Karen spielt keines davon, droht aber, mit ihrem Gefühlsüberschwang alles aus dem Konzept zu bringen.
PUNK ist ihre persönliche Geschichte der Band, und noch nie wurde von den Verheißungen der Musik so unwiderstehlich erzählt. Ein Allheilmittel!
»Mit diesem Buch erinnert Eckhart Nickel daran, was für Energien sich freisetzen, wenn man alle Vorsicht fallen lässt und einfach springt. « Johanna Adorján
»Nickel ist ein wortgewandter Fabulierer. « DLF
Besprechung vom 19.09.2024
Gruppenselfie in der Badewanne
Wie lässt sich noch protestieren, wenn alle immer so sanft sind? Eckhart Nickel erzählt in "Punk" von Nerds, die man liebend gern näher kennen würde.
Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung", schrieb der Journalist Simon Reynolds schon zu Beginn der Zehnerjahre. Reynolds bescheinigte der Gegenwart eine "Retromanie", die nichts Neues mehr hervorbringe, sondern sich in endlosen Compilations, Revivals und Reunions erschöpfe. Die nostalgische Sehnsucht nach den musikalischen und ästhetischen Revolutionen der Vergangenheit drückt sich paradoxerweise nicht in Innovation, sondern in Wiederholung aus.
Es scheint deshalb nur folgerichtig, wenn die Geschichte einer jugendlichen Rebellion im Jahr 2024 im Rückgriff auf eine Rebellion der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts erzählt wird: Punk. Eckhart Nickels gleichnamiger Roman, dem gerade der Hermann-Hesse-Literaturpreis zuerkannt worden ist, entwirft eine Welt, aus der die Musik verschwunden ist. Als Reaktion auf einen mysteriösen "weißen Lärm" - ein nicht verortbares rauschendes Störgeräusch, das plötzlich an unterschiedlichen Stellen aufgetaucht ist und von den einen als terroristischer Akt, von den anderen als anarchistischer "Prank" gedeutet wird - erlässt das "Ministerium für Unterhaltung" eine akustische Zensur. Sie sorgt dafür, dass "alles, was früher über Bluetooth oder drahtlose Netze übermittelt worden war", unterdrückt wird.
Verbunden wird diese Maßnahme mit einem ideologischen Programm, das der Reinigung und "Besänftigung des Gemüts" zugutekommen soll. Die jungen Menschen des Landes werden auf ein "Gleichmut"-Festival geschickt, bei dem sie jeden Gedanken an Anarchie oder Rebellion ablegen sollen. Stattdessen wird bei einem kollektiven "Positivity Whisper" ein "Wörterbuch des Erfreulichen" gebildet. Dass es dabei zu Übergriffen kommt, weil einige Teilnehmer anderen ungefragt in die Ohrläppchen knabbern, fügt sich in Nickels wenig subtiles, satirisches Zerrbild der gegenwärtigen Achtsamkeitskultur: Gleichmut ist in Gleichförmigkeit, Rücksichtnahme in Repression umgeschlagen.
In dieser Lage sucht die Studentin Karen eine Wohnung. Sie spricht in einer WG vor, die von zwei unzeitgemäßen jungen Männern bewohnt wird: Die Brüder Lambert und Esra führen hochtrabende, mit popkulturellen Referenzen gespickte Dialoge, haben ihre Wohnung mit einem selbst gemachten Wrigley's-Spearmint-Geruch versetzt und ihren Flur mit Plattencovern der Achtzigerjahre tapeziert. Sie besitzen außerdem ein geheimes "Labor" mit Musikinstrumenten, das kein Geräusch an die Außenwelt lässt.
Wie sich bald herausstellt, dient das Bewerbungsgespräch nicht nur dazu, eine Mitbewohnerin zu finden, sondern erfüllt eigentlich einen anderen Zweck: Lambert und Esra wollen eine Band namens "Punk" gründen, die dazu beitragen soll, die Musik zurück in die Welt zu bringen. Durch ein Vorspiel im "Ministerium für Unterhaltung" sollen die staatlichen Ordnungshüter überzeugt werden, dass "Punk" den Anstoß zu einer neuen "Zukunftsmusik" geben könnte. In Karen finden Esra und Lambert ihr perfektes Gegenüber. Die WG-Bewerberin kontert versiert mit Zitaten von The Smiths oder Andy Warhol und zaubert für das Bandprojekt sogleich ein paar Songzeilen und eine Coveridee aus dem Hut.
Wüsste man über Nickels Roman nichts als diesen konstruierten Plot, könnte man leicht den Verdacht hegen, dass hier jemand auf relativ schlichte Weise die nostalgischen Gefühle für die eigenen, wilden Jugendjahre gegen eine scheinbar vollständig angepasste, uniforme Jetztzeit ausspielt. Es ist ein für Nickel nicht untypisches Motiv, Musik und Kunst als utopische Formen der Gegenwehr zu inszenieren. So wie es im Vorgänger "Spitzweg" die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts war, die gegen eine von Narzissmen und Polemiken geprägte Gegenwartskultur in Stellung gebracht wurde, ist es jetzt der Geist des Punks, der - wie es Nickel in einem Interview formulierte - der "wehleidigen Jammergemeinde aus hypertoleranten Allesverstehern" entgegengesetzt wird.
Beides ist insofern kompatibel, als "Punk" im Roman weniger bloß für den Musikstil, sondern vor allem als Chiffre für eine widerständige Haltung gegen den Common Sense steht. In einer Jugendkultur, die gänzlich auf Achtsamkeitsrituale und Mäßigung abstellt, kann es so gesehen eine punkige Geste sein, sich wie die Protagonisten des Romans zu betrinken, danach vollständig bekleidet in eine schaumgefüllte Badewanne zu springen und ein Selfie mit einer Polaroidkamera zu machen. Schopenhauer und Spitzweg können für Nickel genauso Punk sein wie die Ramones. Man könnte einwenden, dass dieser Protest in den Privaträumen der WG verbleibt - am Ende wird sogar offengelassen, ob die neu gegründete Band jemals vor Publikum auftreten wird und die Geheimoperation "Zukunftsmusik" wirklich existiert. Aber vielleicht ist auch das eine der Pointen: dass Protest und Widerstand nicht immer öffentlichkeitswirksam inszeniert werden müssen, um effektiv zu sein.
Dass der Roman trotz seiner plakativ-dystopischen Rahmung funktioniert und nicht bloß nostalgisch gestimmte popintellektuelle Generationsgenossen des Autors in seinen Bann zieht, liegt an der Art und Weise, wie die Figuren gezeichnet und die Dialoge gestaltet sind. Das beginnt schon bei der Sprache: Karen, Lambert und Esra bedienen sich bei aller Distinguiertheit eines zeitgenössischen Vokabulars. Sie verwenden Formulierungen wie "borderline cringe", "Miss Bossie Pants" oder "lowkey cheesy". Das könnte leicht schiefgehen, wirkt aber an kaum einer Stelle aufgesetzt oder anbiedernd. Nickels originelle, witzige, und kluge Wortwechsel wecken große Sympathien für die Figuren.
Die drei Hauptcharaktere sind im besten Sinn merkwürdig. Sie legen ein in Teilen eigenwilliges Sozialverhalten an den Tag, zelebrieren ihre Spleens, ihre ästhetischen Vorlieben und ihr Spezialwissen, haben Sorge vor sozialer Zurückweisung und sehnen sich nach Gleichgesinnten. Obwohl sie in gewisser Hinsicht prototypische Romanfiguren im Zeitalter der Retromanie sind, verkörpern sie ein Grundgefühl der Jugendlichkeit, das wohl auch in der Gegenwart noch gültig ist.
Am Ende des Romans bedauert man, die Figuren nicht noch ein bisschen besser kennengelernt zu haben. Nickels öffentlich angestellte Überlegung, eine Fortsetzung zu schreiben, kann man deshalb nur begrüßen. Und bei dem ersten Auftritt der Band vor echtem Publikum wäre man gerne dabei. ERIKA THOMALLA
Eckhart Nickel: "Punk". Roman.
Piper Verlag, München 2024. 208 S., geb.
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