Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn nimmt das Klima in ihrer Imaginations- und Wissensgeschichte aus einer sinnlichen, kulturellen und historischen Perspektive in den Blick.
Was ist Klima? Wenn wir heutzutage über das Klima sprechen, tun wir dies vor allem aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive. Wir können Klima messen und berechnen, aber nicht unmittelbar erfahren. Bevor Klima als »durchschnittliches Wetter« definiert wurde, war das jedoch einmal ganz anders.
Eva Horn knüpft an ein scheinbar ad acta gelegtes Wissen über das Klima an und zeigt, welche enge Verbindung zwischen Kulturen und ihrem Klima einmal bestanden hat. Von Theorien über den Einfluss von Luft und Temperatur auf Körper und Seele über das Bild des »Luftmeers« bis zu den Phantasien »kontrollierter« Klimata: Unter Rückgriff auf Medizingeschichte, Philosophie, Kunst und Literatur entwirft Eva Horn eine große Imaginationsgeschichte des Klimas, die die Debatte um die Klimakrise neu begründen und unser atmosphärisches Sensorium schulen kann.
»All ihre Essays verbinden Wissenschaftsgeschichte mit Literatur und Kunst. Die politische Perspektive verliert sie dabei nie aus dem Blick. Ihr Schreiben ist politische Publizistik« aus der Begründung der Jury des Heinrich-Mann-Preises 2020
Besprechung vom 30.11.2024
Es wird Zeit für mehr Luftverbundenheit
Vom Leben in der Dampfkugel: Eva Horn rekapituliert, wie das Klima von der Antike bis heute wahrgenommen wurde.
Von Jürgen Goldstein
Von Jürgen Goldstein
Sollten einmal spätere Generationen nach sprachlichen Leitfossilien unserer Gegenwart Ausschau halten, dürfte "Klimawandel" als ein heißer Favorit gelten. Kaum ein anderes Wort markiert so prominent eine unserer zentralen Sorgen angesichts der ökologischen Zeitenwende. Zwar haben Wettermoderatoren zum Allgemeinwissen werden lassen, dass Klima nicht mit Wetter gleichzusetzen ist. Doch um die Tiefenschärfe dieses Begriffs steht es schlecht. Wer weiß schon, was das Wort bedeutet und woher es stammt?
Diese Wissenslücke sucht ein Buch zu füllen, das die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn vorgelegt hat. Es handelt sich dabei nicht um eine weitere Kulturgeschichte des Klimas, wie sie etwa Philipp Blom über die Kleine Eiszeit des siebzehnten Jahrhunderts mitsamt ihren Auswirkungen auf das damalige Europa erzählt hat. Gleichwohl entfaltet Horn sinnliche, kulturelle und historische Perspektiven. Ihr geht es um eine Wahrnehmungsgeschichte des Klimas von der Antike bis in unsere Zeit, wie sie sich an ästhetischen Ausdrucksformen ablesen lässt.
Zugleich bietet das Buch ein gerüttelt Maß an Begriffsarbeit. Das Wort Klima entstammt ursprünglich der antiken Geographie, das griechische "klinein" bezeichnet den Neigungswinkel der Sonne. Auf Hippokrates geht die Vorstellung zurück, mit einem Klima aus Winden, Jahreszeiten, Boden- und Wasserqualitäten die erfahrbaren Eigenschaften eines Ortes zu bestimmen. Das Klima gab es daher lange Zeit nur im Plural der vielen Landstriche, bis die weltweiten Messungen, inspiriert durch Alexander von Humboldt, das globale Klima als Resultat gemittelter Datensätze denkbar werden ließ.
Mit dieser Wende zum abstrakten Mittelwert ist uns aber die Geschichte unterschiedlicher Klimavorstellungen abhandengekommen, die zum Teil unhaltbar geworden sind, aber für Horn auch Potentiale einer politischen Anthropologie des Klimas bereithalten. Prägnant wie umsichtig lässt Horn vergangene Vorstellungswelten wiederauferstehen. So erinnert sie etwa an die meteorologische Medizin, hat man doch früh vom Einfluss der klimatischen Bedingungen auf Leib und Leben gehandelt. Lange Zeit wurde die schlechte Luft, angefüllt von "Miasmen", als Auslöser von Krankheiten angesehen. Erst die Infektionstheorie von Jakob Henle und Robert Koch hat diese Vorstellung obsolet werden lassen. Thomas Mann lässt in der Novelle "Tod in Venedig" seinen Protagonisten Gustav von Aschenbach zwar noch unter schlechter Luft in der Lagunenstadt leiden, schließlich aber einer Cholerainfektion erliegen.
Mit der thermischen Anthropologie verband sich seit Aristoteles die unrühmliche Auffassung, verschiedene Klimazonen der Erde brächten bei den Bewohnern unterschiedliche Eigenschaften hervor. Mut, geistige Fähigkeiten, sogar politische Verhältnisse sollten sich dem Einfluss von Hitze und Kälte verdanken. Der klimatische Determinismus hat mit seiner Vorstellung von naturbedingten Prägungen eine hierarchisierende Anthropologie und somit den Rassismus begünstigt. Erst die Vererbungstheorie hat diesem Einfluss der Umwelt den Rang abgelaufen.
Die schönsten Ausführungen hat Horn der "Meteorologie" als der Lehre von dem unregelmäßig "in der Luft Schwebenden" und der "Atmosphäre" als einem fließenden System gewidmet. Der Niederländer Simon Stevin prägte zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts die Vorstellung von einer "dampcloot", einer "Dampfkugel", woraus dann die "atmosphaera" wurde. Evangelista Torricelli brachte den Ausdruck "Luftmeer" ins Spiel, leben wir doch "eingetaucht auf dem Grund eines Meers von elementarer Luft". Herder hat die Menschen "Zöglinge der Luft" genannt.
Horn geht dem ästhetischen Reiz dieser Lufttrunkenheit nach, aber auch der dicken Luft und ihrer Verschmutzung. Sie wirft dazu einen Blick auf Barthold Heinrich Brockes Lyrik, auf Goethes Wolkenstudien und William Turners atmosphärische Landschaftsbilder. Auf der Zielgeraden des Buches schlägt sie daraus politisches Kapital: Die Luft als ein Stück Natur ist für Horn nicht eine äußerliche Umwelt, sondern Medium der Verbundenheit. Luft lässt sich zwar gemeinsam teilen, aber nicht verteilen. Bruno Latour hat von dem "terrain" als einer "Erdverbundenheit" gesprochen und im Sinne einer politisierten Ökologie ein neues "Klimaregime" gefordert, das auf die lebendige Verbundenheit von allem abzielt. Horn wendet dieses Bild zur "Luftverbundenheit", die eine "radikale Relationalität" erzwinge, die über die Bindung an ein Terrain, eine Klasse oder eine Nation hinausgehe.
Es wimmelt in dem opulenten Buch nur so vor historischen Figuren und literarischen Erzählern, und die Darstellung ist nicht frei von Wiederholungen. Doch immer, wenn die Folge an Personen, Theorien und referierten Werken ins Rhapsodische zu kippen droht, fügt sich jedes Detail in den Fluss der Gesamterzählung einer Wahrnehmungs- und Denkgeschichte. Wer hat schon auf der Rechnung, dass sich Georges-Louis Leclerc de Buffon in seinem Buch "Etappen der Natur" von 1778 an die Tiefenzeit des Erdklimas herangetastet hat und als "Vordenker des Anthropozäns" gelten muss? Buffon ging von der Annahme aus, die Erde würde kontinuierlich an Wärme verlieren und eiszeitlich abkühlen. Erst das Abholzen der Wälder und die so ermöglichten Feuer als Symbol unserer Kultur erlaubten es den Menschen, dem globalen Klimawandel des Erkaltens etwas entgegenzusetzen. Zwar lag Buffon mit seiner Grundannahme falsch, aber er hat die Einflussmöglichkeit des Menschen auf das Klima hellsichtig ausgelotet.
Das gedankliche Crescendo des Buches vermag nicht ganz zu überzeugen. Die Forderung nach der unbedingten Relationalität erinnert an den Gedankenduktus des Posthumanismus und teilt mit ihm dessen argumentative Schwächen. Die Entzweiungsgeschichte der Moderne, also die Auf-Distanz-Setzung der Kultur von der Natur, erscheint verhängnisvoll, doch sie ist auch voraussetzungsreicher, als es sich am Begriff des Klimas aufzeigen lässt. Die Moderne von ihren Pathologien zu kurieren, bedarf tiefergehender Anstrengungen. Eva Horns Buch über die Wahrnehmungsgeschichte des Klimas ist dafür aber ein wertvoller Beitrag.
Eva Horn: "Klima". Eine Wahrnehmungsgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 616 S., Abb., geb.,
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Klima" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.