Besprechung vom 08.06.2025
Was hinter den Legenden liegt
Walter Benjamin gilt noch immer als der rätselhafte Philosoph. Über seine Zeit in Paris ist nun eine aufschlussreiche "Biographie des Exils" erschienen, die Licht bringt in die Vorstellung vom einsamen und isolierten Denker. Sie schlüsselt auch das intellektuelle Milieu der 1930er-Jahre auf.
Von Philipp Lenhard
Wohl kaum ein Intellektueller wurde postum von so vielen unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Strömungen für sich in Anspruch genommen wie Walter Benjamin. Dass Benjamin sich bis heute klaren Einordnungen entzieht, liegt nicht nur an seinem schillernden, bisweilen auch hermetischen Werk, sondern auch an seiner Biographie. Er ließ sich nie auf eine Denkschule oder einen bestimmten Gegenstandsbereich reduzieren und pflegte überdies zu einer Vielzahl an Personenkreisen und Gelehrtenzirkeln Kontakt.
Sein Freund Gershom Scholem bescheinigte ihm eine "chinesische Höflichkeit im Umgang mit Menschen, und zugleich war immer an ihm ein sehr starkes Element der Zurückhaltung". Obwohl er mit vielen im Austausch stand, bewahrte er sich stets seine Unabhängigkeit. Benjamin verstand es, sogar seine Freundeskreise zueinander auf Distanz zu halten.
Heute ist Walter Benjamin vor allem als einer der wichtigsten Denker der Kritischen Theorie bekannt, obwohl er erst spät im Pariser Exil zunächst als Stipendiat und dann als Mitarbeiter zum berühmten Institut für Sozialforschung stieß. Obschon am Institut hoch geachtet und respektiert, gehörte er doch nie zum allerengsten Kreis um Max Horkheimer. Sein Ruf als Mitglied der Frankfurter Schule verdankt sich daher vor allem dem Engagement Adornos, der den persönlich und philosophisch für ihn so wichtigen Denker nach dem Krieg in den Kanon der Kritischen Theorie aufnahm.
Schon 1955 erschien eine Auswahl von Benjamins Schriften im Suhrkamp Verlag, 1966 dann zwei von Adorno und Scholem herausgegebene Briefbände. Seit 1972 gaben Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Benjamins Gesammelte Schriften in 17 Teilbänden heraus, die Benjamins spät erlangten Status als Geistesriese des 20. Jahrhunderts endgültig besiegelten. Seither hat sich viel getan. Inzwischen sind sechs dicke Briefbände veröffentlicht worden, und seit 2008 erscheint in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv die auf 21 Bände angelegte Kritische Gesamtausgabe unter der Leitung von Christoph Gödde, Thomas Rahn und dem 2023 verstorbenen Henri Lonitz. Die Gesamtausgabe wird von einer digitalen Edition begleitet, die Einblicke in die Archivalien gewährt.
Jüngst wurde in der digitalen Edition Benjamins Adressbuch aus der Pariser Zeit online gestellt. Dieser Schritt erlaubt es, die Netzwerke im Exil besser nachvollziehen zu können, als das bisher der Fall war. Schon 2006 hatte die Kulturhistorikerin Christine Fischer-Defoy das Adressbuch ediert, allerdings unvollständig und fehlerhaft (so wird etwa Arendts Ehemann Heinrich Blücher dort als "Heidrich" aufgeführt und der Philosoph Alexandre Koyré als "Kongré").
Der Soziologe, Literaturwissenschaftler und Antiquar Georg Wiesing-Brandes hat sich deshalb der Sache erneut angenommen und nun ein fulminantes, 800 Seiten starkes Werk vorgelegt, das für die Benjamin-Forschung von großem Gewicht ist. Zehn Jahre lang hat er in zahlreichen französischen, deutschen und russischen Archiven geforscht, um nicht nur die im Adressbuch verzeichneten 272 Personen zu identifizieren und mit Kurzbiographien vorzustellen, sondern darüber hinaus auch Institutionen, Vereinigungen, Bibliotheken, Hotels, Buchhandlungen, Zeitschriften, Verlage und andere Zusammenhänge zu recherchieren, die in Benjamins Pariser Welt eine wichtige Rolle spielten.
Im zweiten Teil des Bandes werden sogar noch Ergänzungen zum Adressbuch aufgenommen, die Benjamin "auf Manuskripten, Notizzetteln, Briefrückseiten oder in Heften notiert hat". Aus beiden Teilen entsteht ein beeindruckendes Kaleidoskop persönlicher, politischer und wissenschaftlicher Beziehungen, das neues Licht auf Benjamins komplexe Biographie wirft.
Zu Recht weist der Autor in der Einleitung darauf hin, dass Benjamins Situation im Pariser Exil in der Forschung häufig stereotyp als "einsam" und "isoliert" dargestellt wurde, wobei übersehen wird, dass "Benjamin aus pragmatischen Gründen an der Legende seiner Isoliertheit mitgeschrieben haben dürfte, um Hilfe und Unterstützung von Freunden nicht abreißen zu lassen". Jean-Michel Palmiers Behauptung, Benjamin habe in Paris kaum Beziehungen zu kommunistischen und sozialistischen Exilanten gehabt, verweist Wiesing-Brandes ins Reich der Legenden. Anhand seiner Forschung kann er zeigen, "dass Benjamins Netzwerk während seines Exils außergewöhnlich groß war und dass er vor allem im kommunistischen und sozialistischen Milieu zahlreiche Bekannte und Freunde hatte".
An welcher Stelle auch immer der Leser Wiesing-Brandes' Buch aufschlägt, er wird sofort in die Geschichten dieser Netzwerke hineingezogen. Die Kurzbiographien vermitteln einen lebendigen Eindruck von der Lage der Exilanten. Der Anspruch des Buches, mehr als eine Edition zu sein, nämlich eine "Biographie des Exils", wird hier voll erfüllt. Man liest sich fest in Einträgen etwa zur bisexuellen Kostüm- und Bühnenbildnerin Dorothea (Mopsa) Sternheim, die mit ihrem Freund Klaus Mann die Heroinabhängigkeit teilte und in Paris bis zu ihrer Verhaftung durch die Gestapo 1943 im antifaschistischen Widerstand aktiv war.
Ein anderer Eintrag enthält fesselnde Details über das Engagement der Heidegger-Schülerin Emilia Litauer für den sowjetischen Geheimdienst, der in Paris konspirativ eine Sektion der antikommunistischen Untergrundbewegung Eurasia aufbaute, um diese dann mithilfe Litauers zu infiltrieren. Es sind diese und viele weitere Geschichten, die Wiesing-Brandes' sorgfältige und von über hundert Illustrationen begleitete Edition so spannend und überaus lesbar machen.
Im dritten Teil des Bandes sind ergänzend Essays zu den verschiedenen biographischen Kontexten, in denen Benjamin sich bewegte, zu finden, die zwar größtenteils auf der existierenden Sekundärliteratur aufbauen, aber auch eigene Akzente setzen und immer wieder interessante Details und sogar neue Archivfunde einstreuen. Die Themen dieser Essays reichen von den Kunstdebatten im Maison de la Culture über Benjamins Nachbarn in der Rue Dombasle 10 bis hin zu einer luziden Rekonstruktion des Schicksals seines Nachlasses.
Auch die vielfältigen (am Ende erfolglosen) Versuche, Benjamin nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich zu retten, zeichnet der Autor ohne Polemik nach. Ein ausführliches Personenregister rundet den Band ab. An Georg Wiesing-Brandes' Sammlung wird zukünftig kein Benjamin-Forscher vorbeikommen, aber das Buch eignet sich auch für Nicht-Fachleute, die mehr wissen wollen über das intellektuelle und politische Milieu im Paris der 1930er-Jahre.
Georg Wiesing-Brandes: "Walter Benjamin. Das Pariser Adressbuch. Eine Biographie des Exils im Spiegel". Nimbus Verlag, 800 Seiten, 101 Illustrationen
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