Besprechung vom 13.06.2024
Im Spinnennetz des Geheimdienstes
Ständig auf der Flucht: Gerald Richter und Marian Kretschmer erzählen die bewegte Lebensgeschichte des Schriftstellers Stefan Heym als Comic.
Von außen betrachtet, ist die Graphic Novel über die Lebensgeschichte des Schriftstellers Stefan Heym ein Hingucker: mangogelber Buchrücken, gebunden, abgebildet ein Autor, der buchstäblich umspült wird von einem Büchermeer. Das Werk liegt mit angenehmer Schwere in der Hand. Schlägt man es dann auf, knarzt das Buch ein wenig, und der typische Geruch einer Graphic Novel stellt sich ein: neues Papier, frische Druckerfarbe, ein bisschen künstlich. Der Comic strahlt vom ersten Moment an eine hochwertige Qualität aus. Das überrascht, ist es doch das Debüt des Texters Gerald Richter und des Illustrators Marian Kretschmer.
Stefan Heym war ein jüdischer Schriftsteller, geboren 1913 als Helmut Flieg in Chemnitz. Im Alter von achtzehn Jahren flog er wegen seines pazifistischen Gedichts "Exportgeschäft" vom Gymnasium, woraufhin er für sein Abitur nach Berlin wechselte. Dort sammelte er erste journalistische Erfahrungen und knüpfte Kontakte zu Schriftstellern, etwa zu Egon Erwin Kisch, die für ihn später überlebenswichtig werden sollten. Die Herrschaft der Nationalsozialisten zwang den Sozialisten Heym, Deutschland 1933 zu verlassen. Zunächst floh er nach Prag, wo er seinen Namen änderte, zwei Jahre später in die USA, für die er später im Zweiten Weltkrieg kämpfte und die er wiederum 1953 im Zuge der McCarthy-Ära verlassen musste. Heym fand danach in Ost-Berlin eine neue Heimat, obgleich ihm die Zensur manche Schwierigkeit bereitete. Deshalb schrieb er die meisten seiner Bücher für westliche Verlage.
Leider bleibt unklar, welche "sieben Leben" Heyms mit dem Titel der Graphic Novel gemeint sind. Sie hat zehn Kapitel, in denen die vielfältigen Lebensabschnitte von Heym dargestellt werden, und seine Stationen in Europa und Amerika erlauben unterschiedliche Einteilungen. Warum sind es nicht einfach drei Leben: Heym in Deutschland, Heym in Amerika, Heym wieder in Deutschland?
Eine Landkarte zeigt gleich zum Auftakt die Routen Heyms rund über den Globus. Im Anschluss an eine Vorbemerkung differenziert dann eine Legende sechs unterschiedliche Textebenen in der Geschichte. Es gibt einen Zeitstrahl, Sprechblasen, Inhaltsangaben, historische Einordnungen sowie lyrische und literarische Zitate. Das bringt die Komplexität von Heyms Leben zum Ausdruck, und "Die sieben Leben des Stefan Heym" zu lesen ist anspruchsvoll. Auch deshalb, weil die Seiten mitunter vor lauter Bild- und Textebenen unübersichtlich werden. Doch hilft die Legende vom Anfang dabei, den Überblick zu behalten.
Über zu wenig historische Einordnung von Heyms Lebensumständen kann man sich nicht beschweren. Allerdings stellt sich die Frage, ob alle historischen Hintergrundinformationen tatsächlich auch notwendig sind. Beispielsweise bleibt unklar, welchen Bezug die Erwähnung der Explosion des deutschen Zeppelins Hindenburg 1937 zu dem da längst in die USA emigrierten Heym hat. Da die Graphic Novel mit 288 Seiten für einen Comic unkonventionell wuchtig ist, hätten einige Kürzungen das mitunter langatmige Leseerlebnis konzentrierter gestalten können.
Ergänzend zur üblichen Seitenarchitektur von Comics, bietet der Band vielfältige Einzelillustrationen und Collagen. Sie füllen mitunter ganze Doppelseiten und sind abwechslungsreich entworfen. Es gibt da historischen Fotografien nachempfundene Zeichnungen und metaphorische Phantasiegebilde, so zum Beispiel eine Darstellung Heyms im Spinnennetz des amerikanischen Geheimdienstes.
Das wirkt: Die Illustrationen regen zum Weiterdenken an, weil sie Momentaufnahmen veranschaulichen. Da die Bilder manchmal etwas zusammenhangslos erscheinen, hängt es von der Phantasie des Lesers ab, sie zu einer kohärenten Geschichte zusammenzusetzen. Zumal zwischen Weltgeschichte, Heyms persönlichem Geschick und den Handlungen seiner Romane, die ebenfalls eingebunden werden, unterschieden werden muss. Das Licht der Bilder variiert auf eindrucksvolle Weise zwischen Grautönen und buntem Leuchten. Satte Farben bei türkisfarbenen Papierbögen oder roten Harkenkreuzbannern machen das Leben von Heym anschaulich. Insgesamt sticht die Graphic Novel durch ihre ästhetische Qualität und ihre Komplexität heraus. Sie wird deshalb anspruchsvolle Jugendliche genauso überzeugen wie Erwachsene.
"Die sieben Leben des Stefan Heym" erzählt von einem Sohn der Stadt Chemnitz, die 2025 europäische Kulturhauptstadt wird. Die Autoren, ihrerseits engagierte Chemnitzer, wählen die Auseinandersetzung mit Heym als couragiertem, kritischem Denker und Schreiber dezidiert auch deshalb, um der "traurigen Bekanntheit" der Stadt aufgrund von politischem Extremismus in den letzten Jahren die Lebensgeschichte eines "Leuchtturms der Zivilcourage" entgegenzusetzen. Insofern kommt die Graphic Novel gerade recht. JOHANN THÖMING
Gerald Richter, Marian Kretschmer: "Die sieben Leben des Stefan Heym". Graphic Novel.
C. Bertelsmann, München 2024. 288 S., geb.,
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