Besprechung vom 05.02.2025
Literarische Demarkation
Geschätzt in der Welt, übersehen daheim: Gregor von Rezzoris "Denkwürdigkeiten eines Antisemiten" erzählt davon, wie Hass selbstverständlich wird.
Dem Überbringer schlechter Botschaften bekommt die Pflichterfüllung selten gut. Laut Ovid erging es schon dem schönen weißen Singvogel schlecht, der dem Apoll vom Betrug seiner Geliebten berichtete, woraufhin der Gott der Weissagung, des Lichtes und der Dichtkunst seinen Boten in eine übeltönende Krähe verwandelte. In apollinischer Tradition versprechen solche Dienste also gerade Literaten kaum Anerkennung.
Gleiches Schicksal widerfuhr den in fünf Erzählungen zusammengefassten "Memoiren eines Antisemiten" von Gregor von Rezzori. Zehn Jahre nach seinem bejubelten Ersterscheinen im Magazin "The New Yorker" rief der Roman in den größten Teilen der deutschen literarischen Welt 1979 Skepsis, Widerwillen und Ablehnung hervor. Während Rezzori in der Welt seitdem als viel geachteter deutschsprachiger Schriftsteller gilt und Autoren wie Han Kang, Bernardo Carvalho, Zadie Smith, Péter Esterházy und Joshua Cohen zu seinen Verehrern zählt, ist er in Deutschland höchstens als Verfasser von Gesellschaftssottisen bekannt, als der er bis in die Sechzigerjahre klassifizierbar geblieben war. Sie standen ihm beim Erscheinen der "Memoiren" im Weg.
Das hatte damit zu tun, dass er darüber hinaus, ein für viele zugewandter Ästhetiker im Leben und im Schreiben zu sein, vor allem ein schonungsloser und ironischer Überbringer bitterer Gewissheiten, Gewesenheiten und Gegenwärtigkeiten war. Mit den "Denkwürdigkeiten eines Antisemiten", wie der Roman seit der Neuauflage im Rimbaud Verlag 2004 heißt, hatte Rezzori sein Botentum zur Meisterschaft gebracht und galt fortan als "snobistischer" (so der Kritiker Joachim Kaiser) Krächzer. In der Nachkriegs-, Trümmer- und Kahlschlagliteratur der jüngeren Generation, die sich mit den eigenen Verlusten beschäftigte und nicht mit den Ursachen jener Verluste, die sie und ihre Eltern der Welt angetan hatten, klaffte eine psychosentiefe Lücke: der über die Jahrhunderte im sozialen und kulturellen Selbstverständnis verwurzelte, zu täglich erprobtem Instinkt und geübtem Reflex geronnene Antisemitismus aller Gesellschaftsschichten, der in der fast vollständigen Vernichtung der europäischen Juden und Europas gemündet hatte und noch immer virulent war.
Rezzori hatte das Sakrileg begangen, so unverhohlen wie kaum ein Deutschsprachiger vor und nach ihm von dieser Selbstverständlichkeit des Hasses in einem sehr undeutsch eleganten, undeutsch ironischen, undeutsch literarisch plaudernden, manchmal gar verschnörkelten Stil zu erzählen. Auch der war mit dem deutschen Vernichtungskrieg untergegangen. Davon wollte man noch zu Beginn der Achtziger nichts wissen (man denke an den Historikerstreit), schon gar nicht aus der Feder eines polyglotten, weltgewandten Gigolos mit Wohnsitzen in Berlin, Paris, New York, Mailand und der Toskana. Doch Rezzori, einer der wenigen verbliebenen deutschsprachigen Nichtdeutschen aus dem Schmelztiegel der Bukowina, schrieb es seinen Sprachverwandten auf den Buchdeckel.
Grund genug, diesen Roman all jenen Demokraten auf die Lektüreliste zu setzen, die an der Frage zu verzweifeln scheinen, wie der stetige Anstieg von Antisemitismus und der wiederaufkeimende Wunsch nach irgendeiner Form einer homogenen Gesellschaft zu bremsen und zu senken wäre. Mit dem eruptiven Wiedererstehen aller denkbaren Formen des Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 tut sich Deutschland weiterhin schwer, dieses Hassphänomen als die noch immer anschlussfähige atavistische Form der Schuldzuweisung für Probleme anzuerkennen, deren Verantwortung und Lösung niemand übernehmen will. Die Frage nach dem Umgang damit ist nicht von dem den Bundestagswahlkampf beherrschenden Thema der Migration und davon zu trennen, wie ein zukünftiges Europa aussehen soll. Mit Grenzen, die behauptete Staatsbürgerschaftshomogenitäten von anderen trennen? Deren Daseinsdauer über Daseinsberechtigung entscheidet?
Hierfür bieten Rezzoris "Denkwürdigkeiten" Inspiration. So prall, liebevoll, detailliert und tabulos erzählt er von der Lebenswirklichkeit einer vergessenen Welt in der Bukowina, dem heute zu Ukraine und Rumänien gehörigen Landstrich aus dem untergegangenen k. u. k. Reich, in dem das Gewimmel aus Nationen, Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen derart gewaltig war, dass sich Neukölln, Heilbronn oder Duisburg heute dagegen wie klischeekonforme Langweiligkeiten ausnehmen. Es ist nicht nostalgische "Epochenverschleppung", die Rezzori schildert. Er seziert die heute bloß transformierten sozialen und kulturellen Logiken der Zeit und zieht dabei en passant eine Demarkationslinie zwischen dem, was pejorativ als Multikulturalismus bezeichnet wird, und dem, was Multikulturalität ist.
Deshalb sollten vor allem Mitglieder der noch amtierenden Rumpfregierung aus SPD und Grünen diese Lektüre wagen. Ihren Wahlprogrammen (das der Grünen ist noch vorläufig, das der SPD heißt übermütig "Regierungsprogramm") gelingt es jenseits von Floskeln nicht, Antisemitismus in seinen heutigen dreifachen Erscheinungsformen klar zu benennen, ordnen es ein neben "Queer- und Behindertenfeindlichkeit" (aus dem Programmentwurf der Grünen). Davor, dass gerade Mitglieder neuer linker und spezifischer muslimischer Milieus aktuell die stärksten Triebkräfte des Antisemitismus darstellen, wie der neueste Verfassungsschutzbericht deutlich macht, verschließen die beiden Parteien ängstlich die Augen.
Es gab schon 2005 einen Bundestagswahlkampf, in dem Migration Thema war, mit einem SPD-Bundeskanzler mit vergleichbarer Neigung zu falscher Selbsteinschätzung. Es ging um Dinge, um die es heute längst nicht mehr geht, Kruzifixe, Kopftücher, die Multikulti-Atmosphäre im Kreuzberger Kiez. Schröder wurde abgewählt, und die anschließend sechzehn Jahre lang regierende Kanzlerin wandelte sich von der innenpolitischen "Die multikulturelle Gesellschaft ist grandios gescheitert"-Merkel 2005 zur außenpolitischen "Wir schaffen das"-Angela 2015, wodurch die CDU das Kanzleramt wieder verlor.
Die Präzision, mit der Rezzori die Widersprüche jenes Vielvölkerstaats beschreibt, der nach dem Ersten Weltkrieg in all seiner Frag- und Merkwürdigkeit in der Bukowina einfach weiterlebte, bildet das Zerrbild heutiger Bemühungen, Widersprüche überhaupt zu bekämpfen und an jeder noch kontrollierbaren Stelle wegzuschleifen. Rezzori beschreibt, was Luhmann mit der autopoietischen Beharrungskraft sozialer Systeme vor Augen gehabt haben muss: Europa ist immer noch die Antwort des alten Kontinents auf seine totalitären Gewalterfahrungen, darauf, dass Homogenität immer das Ergebnis von Zwang ist, von Unfreiheit, Gewalt und Tod. Das Europa der Europäischen Union ist die ins intellektuelle und emotionale Gedächtnis eingeschriebene Lehre, dass der Mensch sich gleichen, aber auch unterscheiden will und es diese Ambivalenz ist, die Europa ausmacht. Sie droht wieder zu kippen in eine Richtung, die Deutschland im Jahr 1928 ebenfalls prägte, in dem der erschütterndste Teil von Rezzoris "Denkwürdigkeiten" spielt: "So ist es leider, das Denken wird ja häufig durch Stimmungen ersetzt. Sie sind haltbarer, widerstehen der Zeit lebendiger, und zwar umso besser, je irrationaler sie sind. (. . .) Wir sind allesamt Mischblut, Kinder eines Imperiums von sehr vielerlei Völkerschaften, Rassen, Religionen." Ein Graus für alle Autokraten, Oligarchen und Möchtegernimperatoren.
Was Europa immer ausgemacht, angreifbar und zum Sehnsuchtsort gemacht hat, die Einheit der Unterschiedlichkeit (e pluribus unum), lehren aufs Neue Rezzoris "Denkwürdigkeiten". Geschrieben von einem eleganten und weisen Stilisten, feinsinnig und mit einem Witz, den es in deutscher Sprache kaum noch gibt. SOPHIE KLIEEISEN
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