
Besprechung vom 11.10.2025
Die Ambivalenz gelebter Theorie
Problematisches gehört ins Bild: Grit Straßenbergers Biographie von Hannah Arendt hält erfreulich Abstand zur gern geübten Seligsprechung.
Das FBI war damals schon dabei. Im Juli 1956 meldete ein Informant, dass seine Tochter nach einem Seminarbesuch bei Hannah Arendt "changed her thinking completely". Was für ein Kompliment! Gewiss, Hannah Arendt selbst neigte nicht übermäßig zur kritischen Revision eigener Gedanken, doch dass sie als Autorin und Lehrerin eine ständige Herausforderung zum Selberdenken war und bleibt, das macht auch die neue Biographie von Grit Straßenberger durchweg klar. Noch eine, fragt sich der Leser angesichts der Dauerflut an Arendt-Literatur. Genügt da die Aussicht, "die Person hinter der einzigartigen Philosophin" kennenzulernen, und zwar ausgerechnet als "unsere Freundin im Geiste" (so nämlich verheißt es der offenbar auf simple Gemüter zielende Klappentext)? Doch Grit Straßenberger überzeugt gerade mit einer Darstellung, die solche Persönlichkeitsspaltung nicht mitmacht: Hannah Arendt ist immer ein und dieselbe, eine höchst eigensinnige, originelle, sture Frau, so anregend, konsequent, zuweilen widersprüchlich und rechthaberisch, wie es ungewöhnlichen Geistern nun einmal zusteht, Zeitzeugin, Kommentatorin, Analytikerin fast eines ganzen gewaltsamen Jahrhunderts.
Aber hat die äußere Lebensgeschichte einer Theoretikerin überhaupt etwas zu sagen? Unbedingt! Die Existenz Hannah Arendts - wie die ihrer intellektuellen Zeitgenossen - war in jedem Augenblick bestimmt von den politischen Krisen der Epoche, von Krieg, Emigration, Diktatur, und ihre Schriften sind nichts anderes als der Versuch, diese Epoche zu verstehen, und das heißt: Alle ihre Bücher sind untrennbar durchdrungen von persönlicher und allgemeiner Katastrophenerfahrung.
Nun weiß jeder, dass es "die" Biographie einer Person nicht geben kann, und jede gute Biographie zeigt nicht nur ihren Gegenstand, sondern auch etwas vom persönlichen Blick des schreibenden Biographen. Die erste Qualität von Grit Straßenbergers "Die Denkerin": Darstellung und Kritik von Arendts Schriften stehen vollkommen gleichwertig neben der Lebensgeschichte, mit Schwerpunkt auf Entstehungsbedingungen und Wirkung. Die zweite Qualität ist angesichts der verbreiteten Seligsprechung Arendts besonders erfreulich: Straßenberger diskutiert auch die problematischen Seiten der Autorin und ihres Denkens, verfällt aber sogar bei extrem heiklen Themen wie ihrer Verteidigung der schulischen Rassentrennung in der "Little-Rock-Affäre" nie in den Simpelmoralismus der Nachgeborenen; sie lässt keinen Zweifel an der Unhaltbarkeit von Arendts Position, versucht aber vor allem zu begreifen, wie es zu dieser überhaupt kommen konnte. Der Erkenntnisgewinn ist auch für heutige Zeiten erheblich: So seltsam es ist, dass Arendt das öffentliche Schulsystem umstandslos dem Privatleben zuschlug, so bezeichnend ist diese Haltung wohl bis heute für ein konservatives amerikanisches Politikverständnis, das den Eingriff des Staates so weit wie möglich reduziert zugunsten der Freiheit des Individuums.
Straßenberger also neigt weder zu Schönfärberei oder Verteidigung um jeden Preis noch zu nachträglicher Aburteilung; ihre Darstellung ist immer sachlich, exzellent informiert, manchmal etwas wiederholend, durchweg ausgewogen, solide, auch wo man ihr womöglich nicht zustimmt; wollte man hier dennoch einen kleinen Vorbehalt verspüren, dann gilt dieser vielleicht der allzu beruhigten Zurückhaltung einer eigenen Stimme der Autorin.
Ins Spannungsfeld zwischen Werk und Biographie gehört natürlich, mit einem großen Seufzer, der Casus Heidegger. Schreibt Arendt 1929 in einem Brief, "daß unsere Liebe der Segen meines Lebens geworden ist", so wird aus Straßenbergers schonungsloser Darstellung klar, dass sie wohl auch das Verhängnis dieses Lebens war. Ein Verhängnis, weil hier ein an sich rein persönliches Verhältnis immer wieder in destruktiver Weise hineinspielt in Arendts Denken und Schreiben. Der krasse Unterschied zwischen öffentlichen Äußerungen ("heimlicher König im Reich des Denkens") und privaten ("er, der doch notorisch immer und überall lügt, wo er nur kann") beschädigt die Glaubwürdigkeit ebenso sehr wie Arendts wachsende Neigung, anders als der Freund Karl Jaspers Heideggers Nazi-Engagement rhetorisch zu vernebeln. Liebe, Freundschaft sind für den Biographen nicht kritisierbar, doch abgesehen davon, dass es in der Republik des Denkens keine Könige gibt, scheint es einigermaßen heikel, bei einem Menschen, der "notorisch immer und überall lügt", kategorisch am Wahrheitsanspruch des Philosophen festzuhalten - denn für Heidegger gilt nicht anders als für Arendt: Es gibt nicht die Person hinter dem einzigartigen Philosophen, er ist immer ein und derselbe. Das alles ist kein Anlass für obsessive Urteile, aber Straßenbergers biographische Darstellung meistert die Aufgabe, Arendts Ambivalenz nüchtern herauszuarbeiten.
Dazu zählt auch der vage unpolitische Hintergrund ihrer politischen Theorie, die auf einem, ebenfalls von Heidegger inspirierten, Verfallskonzept beruht: "Der Niedergang des Politischen beginnt also für Arendt bereits in der griechischen Antike, genauer: bei ihren herausragenden philosophischen Denkern Platon und Aristoteles", resümiert Straßenberger eine sehr allgemeine Grundidee, die zwar historisch kaum zu begründen und nur noch wenig produktiv ist, im lebensgeschichtlichen Nachvollzug aber einige Plausibilität bekommt. Straßenberger vermag gerade hier die Besonderheit der Denkerin Hannah Arendt zu zeigen, die eben weder "reine" Philosophin war noch "reine" Politologin, weder nur distanzierte Wissenschaftlerin noch nur aktuell engagierte Intellektuelle.
Ob Arendt sich dessen immer bewusst war? Der berühmteste Fall: "Eichmann in Jerusalem" gibt zumindest eine Teilantwort. Die bis heute extrem umstrittene Reportage führte zu Konflikten mit wichtigen Gefährten, bei Gershom Scholem zum definitiven Bruch der Freundschaft. Die Biographin blickt nicht nur in den Text, sondern auch in die ihn umgebenden Dokumente, und da drängt sich der Eindruck auf, Hannah Arendt habe etwas ganz Wesentliches übersehen: dass nämlich nicht nur Scholems Haltung zum Eichmann-Prozess bestimmt war durch fundamentale Lebensentscheidungen, sondern ganz genauso ihre eigene. Arendt war nicht einfach die unbestechliche Beobachterin, als die sie sich sehen wollte; sie schleppte - wie konnte es anders sein - ihrerseits ihre ganze Lebensgeschichte, ihr Verhältnis zum Judentum, zum Zionismus, zur Schoa, zu Deutschland an den Schuhsohlen mit sich - und auch wieder das zu Heidegger, der über Arendts Buch kein Wort zu sagen wusste.
Vielleicht liegt die Faszination von Hannah Arendts Lebenswerk gerade in der Ambivalenz einer gelebten Theorie, die sich - anders wiederum als ihr problematischer Lehrer - nicht abschotten wollte in einem hermetischen Denkgebäude, sondern durchlässig blieb für die Risiken des eigenen und des politischen Lebens. Grit Straßenbergers Buch schärft für beides den Blick: Risiko und Gewinn. WOLFGANG MATZ
Grit Straßenberger: "Die Denkerin". Hannah Arendt und ihr Jahrhundert.
C.H. Beck Verlag, München 2025. 528 S., Abb., geb.
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