Besprechung vom 16.04.2025
Der Gelehrte, den es nicht in der Stube hielt
Quer durch Grönland: Günter Wessels Biographie Alfred Wegeners nimmt den Entdecker der Kontinentalverschiebung vor allem als einen Pionier der Polarforschung in den Blick.
Der frühe Tonfilm, der unter dem Titel "S.O.S. Eisberg" in die Kinos kam, wurde in großen Teilen im Sommer 1932 in der Umgebung von Uummannaq an der Westküste Grönlands gedreht. Es war die bis dahin teuerste Filmproduktion überhaupt, zeigt Leni Riefenstahl in der weiblichen Hauptrolle und ist noch in manch anderer Hinsicht eine filmhistorische Kuriosität. Zugleich ist der Film ein Dokument für die damalige öffentliche Aufmerksamkeit für den Polarforscher Alfred Wegener. Er wird in "S.O.S. Eisberg" mehrfach erwähnt, und "wichtige Wegener-Daten" sind sogar ein Element der Handlung. Denn im November 1930 war Wegener - seit 1924 Professor für Meteorologie an der Universität Graz - 189 Kilometer östlich von Uummannaq ums Leben gekommen. Seine letzten Aufzeichnungen blieben verschollen.
Bekannt ist Alfred Wegener hierzulande heute als Namenspate der mit Meeres- und Polarforschung befassten deutschen Großforschungseinrichtung und in der ganzen Welt für seine Hypothese der Kontinentalverschiebung, die der modernen Theorie der Plattentektonik den Weg bereitete. Sie wurde zu Wegeners Lebzeiten von der geologischen Fachwelt keineswegs ignoriert, sondern lebhaft diskutiert, wenn auch mehrheitlich abgelehnt.
Natürlich kommt die Kontinentalverschiebung auch in der Biographie Wegeners vor, die der Journalist Günther Wessel vorgelegt hat. Allerdings widmet er ihr lediglich ein Kapitel. Und über die Beiträge des vielseitigen und überaus produktiven Wissenschaftlers zu anderen Forschungsgebieten erfährt man bei Wessel nur sehr am Rande. Das ist aber kein Problem, denn wer sich dafür interessiert, der wird in einer stattlichen, 2015 erschienenen wissenschaftshistorischen Biographie des Amerikaners Mott T. Greene fündig.
Wessels Ansatz ist ein anderer - und auf seine Weise nicht weniger verdienstvoll. Im Vordergrund steht bei ihm der Polarforscher Alfred Wegener. Insgesamt vier Mal war der geborene Berliner zu Expeditionen nach Grönland aufgebrochen, wobei die dritte Reise eine Vorexpedition für die vierte war, von der er dann nicht mehr zurückkehrte. Jede dieser Fahrten schildert Wessel packend und in vielen, zuweilen auch anekdotischen Details. Etwa, wie der junge Wegener mehrfach an den dänischen Polarforscher Ludvig Mylius-Erichsen schreibt, um sich für die Teilnahme an dessen Grönlandexpedition 1906/1908 zu bewerben, keine Antwort erhält und dann in einer Berliner Tageszeitung seinen Namen unter den Mitfahrenden liest.
Auch in der Quellennutzung unterscheidet sich Wessel sehr von Greene. Während dieser vor allem das wissenschaftliche Werk Wegeners auswertet - von seiner umfangreichen Korrespondenz blieb leider nur wenig erhalten -, stützt Wessel sich dort, wo es über die menschlichen Seiten seines Protagonisten zu berichten gilt, wesentlich auf die Biographie seiner Witwe Else Wegener aus dem Jahr 1960. Modernisiert wird das Material aber entscheidend durch Interviews, die Wessel mit verschiedenen Experten geführt hat. Die Erträge daraus sind mal mehr, mal weniger hilfreich. So bekommt der Leser dank der Hamburger Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdecke wichtige Einblicke, die er sogar bei Greene nicht findet, jedenfalls nicht in dieser Prägnanz. Gewährsmann beim Thema Kontinentalverschiebung ist ihm indes der Greifswalder Geologe Martin Meschede - ein ausgewiesener Experte für die moderne Plattentektonik, aber eben kein Historiker seines Fachs.
Aber Geologiegeschichte ist, wie gesagt, nicht der Schwerpunkt des Buches. Seinen polaren Fokus unterstreicht Wessel in insgesamt vier Kapiteln, mit denen er den chronologischen Lebensbericht unterbricht, um Wegeners Interesse an der Hocharktis mit einem Überblick über die Geschichte der Nordpolarforschung im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zu kontextualisieren. Diese Abschnitte machen plastisch, wie sehr die Gestalt Alfred Wegeners hier auch für den Wandel von Entdecken zum Erforschen steht, weg von dem vorrangigen Ziel, Gefilde zu erreichen, an denen zuvor noch niemand war - zumindest kein Europäer -, hin zur Erhebung wissenschaftlicher Daten.
Mylius-Erichsen war noch sehr ein Entdeckertyp gewesen, auch wenn seine Expedition bereits wissenschaftliche Ziele hatte. Aber noch Ende 1911 - Wegener war Privatdozent im Marburg und hatte gerade seine ersten Gedanken zur Kontinentaldrift formuliert - lieferten sich der Norweger Roald Amundsen und der Brite Robert Scott einen Wettlauf zum Südpol, der von allem anderen getrieben war als von wissenschaftlichen Interessen. Zwar hatte Wegeners zweite Grönlandreise im Jahr 1913 das Ziel, die vergletscherte Insel an ihrer breitesten Stelle zu durchqueren, war insofern also auch ein Rekordversuch, doch an der Erhebung meteorologischer Daten entlang des Weges über das kilometerhohe Eisschild bestand ein erhebliches Grundlageninteresse.
Die deutsche Grönlandexpedition von 1930/31, die Wegener bis zu seinem Tod im Eis leitete, stand schließlich fast völlig im Zeichen der Wissenschaft. Die Überwinterung auf der Station "Eismitte" im Zentrum des grönländischen Gletscherschilds galt vor allem dem Sammeln von Wetteraufzeichnungen über ein volles Jahr hinweg. "So wollte Wegener unter anderem auch herausfinden, ob Tiefdruckgebiete über das Hindernis Grönland und seine Eiskappe überhaupt hinwegziehen können", schreibt Wessel, "was für den beginnenden Flugverkehr auf der Polarroute wichtig war."
Dies war eben nicht mehr die Arktis des neunzehnten Jahrhunderts. "Grönland ist jetzt so weit bekannt, daß man keine abenteuerlichen Rekordreisen mehr machen muß", habe Alfred Wegener im Vorfeld seiner letzten Expedition erklärt, schrieb seine Witwe später. Doch auch wenn für Wegener weder Ruhm noch finanzielle Interessen eine Rolle spielten - anders als noch für seine Zeitgenossen Amundsen und Scott -, so wird bei Wessel deutlich, welch einen Antrieb noch für den Grazer Universitätsprofessor Abenteuerlust und Freude an extremen Outdoor-Erfahrungen darstellten. Der Autor meint bei seinem Helden sogar eine "leichte soziale Phobie" zu erkennen, was ein wenig verkennt, dass Polarforscher immer im Team isoliert sind. Umgänglichkeit und Belastbarkeit im alltäglichen Miteinander gehören zu den wichtigsten psychologischen Voraussetzungen für die Teilnahme an Expeditionen ins Eis.
Als Organisator allerdings war Wegener nicht ganz so begabt wie als Wissenschaftler, was, wie Wessel seinen Lesern darlegt, dann wohl doch auch einen Anteil an den tragischen Ereignissen im beginnenden Nordpolarwinter 1930 hatte. Dass Wegeners Expedition ohne Flugzeuge nach Grönland kam, ist allerdings nicht ihm anzulasten, sondern der zu knappen Finanzierung seines Unternehmens im Deutschland der Weimarer Republik. Schon eher war es das Fehlen einer Funkverbindung nach Eismitte - Wegener kannte diese Technik von seinen früheren Expeditionen nicht und hielt sie auch jetzt für entbehrlich. Beides, Flugzeug und Funkgerät, sind übrigens die zentralen Requisiten in "S.O.S. Eisberg", dessen Produzenten das Ende des heroischen Zeitalters der Polarforschung quasi besiegelten - indem sie am Schauplatz einstiger Entdeckerdramen einen Spielfilm drehten.
ULF VON RAUCHHAUPT
Günther Wessel: "Alfred Wegener". Universalgelehrter, Polarreisender, Entdecker.
Mareverlag, Hamburg 2024. 288 S., Abb., geb.
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