Besprechung vom 01.08.2021
NEUES REISEBUCH
Für den Tisch Dass Schriftsteller auch politische Visionäre seien, ist ein verbreiteter Irrglaube. Tatsächlich ist die Liste derer lang, die sich naiv oder berechnend mit den Mächtigen einließen und später dafür bezahlen mussten. Einer solchen Liaison verdankt sich eines der merkwürdigsten Häuser Islands, das 1939 im ostisländischen Fljótsdalur errichtete Wohnhaus auf dem Hof Skriduklaustur - dreihundert Quadratmeter, dreißig Zimmer, dicke Steinwände, errichtet von dem deutschen Architekten Fritz Höger. Der Bauherr Gunnar Gunnarsson war in der Nähe aufgewachsen und hatte sich die Hofstelle 1938 gekauft. Dass er einen so kostspieligen Bau in Auftrag geben konnte, verdankte er seinem großen Erfolg unter anderem in Deutschland, wo ihm Adolf Hitler eine Audienz gewährte. Dann besetzten die Engländer die Insel, und noch in den letzten Kriegstagen musste der Schriftsteller hinnehmen, dass sein großes Haus gründlich durchsucht wurde, weil ein fremdes Flugzeug angeblich etwas über dem Fljótsdalur abgeworfen hatte und die Besatzer argwöhnten, es könne sich dabei um den deutschen Reichskanzler gehandelt haben.
Diese Geschichte und neunundzwanzig andere dazu erzählt der isländische Verleger, Autor und Organisator gleich zweier Buchmessen-Gastlandauftritte (Island und Norwegen) Halldór Gudmundsson in seinem Buch "Island. Insel aus Geschichten". Sein Land sei arm an materiellen Zeugnissen der Vergangenheit, schreibt er im Vorwort, mittelalterliche Ruinen würde man hier vergeblich suchen, aber dafür bestehe der Reichtum Islands seit jeher in der Literatur, der mündlichen Erzählung ebenso wie der schriftlich fixierten - ein Topos, der sich so ähnlich schon bei dem mittelalterlichen dänischen Historiker Saxo Grammatikus findet. Halldór Gudmundsson löst das Versprechen jedenfalls ein, und was er aus vielen Teilen des Landes erzählt, fesselt auf jeder Seite: Da ist ein mörderisches Liebespaar, das im neunzehnten Jahrhundert über Kreuz die störenden Ehepartner um die Ecke bringt, da sind die alten Helden aus der Zeit um die Christianisierung des Landes oder deutsche Reisende, die fast tausend Jahre später spurlos auf einem See in der Wildnis verschwinden.
Für den Grad an Lebendigkeit, die der ruhig und unterhaltsam erzählende Autor seinen Protagonisten verleiht, ist es nicht erheblich, ob sie vor fünfzig, hundert oder achthundert Jahren lebten, er behandelt wie Arno Schmidt "alles was je schrieb in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend", und das gilt auch für die anderen - in diesem Buch sind die Autoren allerdings klar in der Überzahl. Denn über die volle Distanz des Buches stellt sich rasch heraus, dass es für den Autor zwei Fixpunkte seiner Reisebetrachtungen gibt: die mittelalterlichen Sagas und den modernen Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness. Man könnte auch sagen: einen Fixpunkt, nämlich die Literatur.
So entstand ein Island-Buch von einiger historischer Tiefenschärfe. "In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts passierten in Island so viele Dinge zum ersten Mal", schreibt der Autor, und tatsächlich wird man sich den langsamen Wandel dieser Zeit letztlich kaum radikal und nachhaltig genug vorstellen können. Vor allem weil sich der Kontakt mit dem Rest der Welt intensiviert, was nicht nur in der nun beträchtlich wachsenden Island-Reiseliteratur Niederschlag findet, sondern was auch die Verhältnisse auf der Insel selbst verändert.
Unübersehbar ist der Stolz des Autors auf die Geschicke seiner Heimat und auf sehr viele unter den insgesamt eineinhalb Millionen, die sie je bewohnten oder heute mit ihm teilen. Bisweilen schießt er damit übers Ziel hinaus, wenn er etwa die moderne Literatur mit Dante beginnen lässt, dann aber den tatsächlich großen Dichter Snorri Sturluson ins Spiel bringt, dem wir eine Edda und eine umfangreiche Geschichte der norwegischen Könige verdanken und der, so Halldór Gudmundsson, recht eigentlich Dantes Konzept moderner Autorschaft vorweggenommen habe. Das ist eine aparte Umwertung der Literaturgeschichte, die noch überzeugender wäre, gäbe es weder die deutschen Minnesänger noch die französischen Troubadours, die Beschreibungskunst eines Hartmann von Aue, eines Wolfram von Eschenbach oder eines Chrétien de Troyes.
Entstanden ist jedenfalls ein beeindruckendes Buch, das durch Dagur Gunnarssons großartige Fotos und die gediegene Ausstattung und Verarbeitung auch in der äußeren Form nichts zu wünschen übrig lässt. Außer vielleicht eine Karte, um all die Orte besser lokalisieren zu können, obwohl das Buch seinen Zweck in jenen Kapiteln auch ohne Karte erfüllt, in denen die Geschichten den realen Schauplätzen zumindest ebenbürtig sind. Tilman Spreckelsen
Halldór Gudmundsson: "Island. Insel aus Geschichten." Fotos von Dagur Gunnarsson. Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson. Corso Verlag, 256 Seiten
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