Besprechung vom 02.05.2025
Da verliert der Fortschritt an Glanz
Revoltierende Natur statt revolutionäres Proletariat: Heinrich Detering folgt Spuren eines ökologisch bewegten Marx.
Die Beschäftigung mit Marx kennt lange Phasen intellektueller Sterilität, in denen das facettenreiche Werk in politisch handhabbares Lehrbuchwissen überführt wird, aber dann auch wieder Renaissancen, in denen ein Teil von Marx' Schriften gegen einen anderen Teil ausgespielt wird, zumeist mit dem Ziel, Marx für die Fragen und Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart anschlussfähig zu machen. In der Vergangenheit lief das zumeist darauf hinaus, dass der junge gegen den alten Marx in Stellung gebracht wurde, der spekulative Kopf mit seinen rhetorisch brillanten Formulierungen gegen den tief in die Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie vergrabenen Empiriker, der im Lesesaal des Britischen Museums in London die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu ergründen suchte. In jüngerer Zeit geht es hingegen eher um die Frage, ob und inwieweit sich bei Marx ein Strang ökologischen Denkens finden lässt, in dem er die Natur nicht als einen ausbeutbaren Ressourcenvorrat zur Vermehrung des Reichtums begriffen hat, sondern als Quasi-Subjekt mit Widerstandspotentialen gegen ihre willkürliche Ausbeutung durch den Menschen.
Der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering ist dieser vom Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher in den späten Siebzigerjahren erstmals beschriebenen Spur im Denken von Marx gefolgt, hat sie aber nicht, wie zuletzt der japanische Marx-Forscher Kohei Saito (F.A.Z. vom 1. 12. 2023), erst beim späten Marx und dessen Beschäftigung mit der Berechnung der Bodenrente beginnen lassen, sondern bereits bei dem jungen Redakteur der "Rheinischen Zeitung" und dessen Auseinandersetzung mit den Gesetzesverschärfungen gegen Holzdiebstahl ausgemacht, um sie von da an durch das ganze Werk bis hin zu Marx' Exzerpten aus den klimakundlichen Arbeiten des bayerischen Agrarwissenschaftlers Carl Fraas zu verfolgen.
Fraas hatte den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Pflanzenwachstum untersucht und sich gegen die von Justus Liebig entwickelte Fruchtbarkeitssteigerung der Böden mit den Mitteln der Agrarchemie gewandt. Marx hat sich eingehend mit Fraas beschäftigt, was für die Ökologiefrage vor allem darum interessant ist, weil er dabei auf den Gedanken einer Begrenzung der Naturausbeutung gestoßen ist. Er hätte, so Deterings Vermutung, sich indes kaum mit Fraas' Schriften beschäftigt, wenn er nicht bereits für das darin traktierte Problem sensibilisiert gewesen wäre. Und diese Sensibilität erwuchs, so Deterings Leitthese, aus der Beschäftigung des jungen Marx mit den Autoren der Romantik in Deutschland, mit Ludwig Tieck, Karoline von Günderode, Annette von Droste-Hülshoff und weiteren.
Hier kommt der Literaturwissenschaftler Detering ins Spiel, der das Marx'sche Werk nach Spuren dieser frühen Beschäftigung mit den Romantikern absucht und mit philologischer Akribie fündig wird. Detering erweitert dabei den Fokus seiner Spurensuche und fasst auch Goethes Metamorphosenlehre ins Auge sowie den Umstand, dass Marx, wenn er Shakespeare zitierte, was er oft tat, dabei nicht das englische Original verwendete, sondern nach der in romantischem Geist erfolgten Übersetzung August Wilhelm Schlegels griff, bei dem er in seiner Bonner Studienzeit Vorlesungen gehört hatte. Dass Marx ein guter Kenner Goethes war und dessen "Faust" im "Kapital" mehrfach zitiert hat, ist bekannt; dass er sich mit Goethes Naturphilosophie eingehend beschäftigt hat, ist in der Marx-Forschung weniger präsent und wirft ein zusätzliches Licht auf den Goethe-Kenner Marx und dessen intensive Beschäftigung mit der Natur, die er gern auch als "Mutter Natur" bezeichnete.
Detering beschreibt seine Beschäftigung mit Marx als eine "von den Rändern" her, die nicht den frühen gegen den späten oder den späten gegen den frühen Marx ausspielt, sondern die das Werk nach auf den ersten Blick marginalen Passagen absucht und sich eingehend auch den Fußnoten widmet, um untergründigen Kontinuitäten in Marx' Denken auf die Spur zu kommen. Ein ums andere Mal stößt Detering dabei auf Überlegungen, die all denen entgangen sind, die Marx unter der Fragestellung gelesen haben, was denn seine "eigentliche" Aussage gewesen sei: woran und warum die kapitalistische Wirtschaftsordnung scheitern und welche Koalition gesellschaftlicher Gruppen zuletzt den Sieg im Kampf um die politische Macht davontragen werde. Sie hat in der Marx-Rezeption zu einer Glorifizierung des revolutionären Proletariats geführt, die bei Marx selbst so nicht zu finden ist.
Bei Deterings Beschäftigung mit Marx steht dagegen die Revolte der Natur gegen ihre hemmungslose Ausbeutung im Mittelpunkt. Die Natur nimmt bei ihm die Position ein, die in der marxistischen Orthodoxie das Proletariat innehatte, und an die Stelle der Revolution tritt die Revolte. Damit verliert auch die Fortschrittsvorstellung, als deren Vertreter Marx nach wie vor gilt, ihren Glanz, und die Bewahrung des Bestehenden tritt an die Stelle grundstürzender Veränderungen. Der romantische Marx, den Detering entdeckt, ist durch und durch konservativ, nicht im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, aber doch hinsichtlich der Natur und ihrer Bewahrung als Lebensgrundlage von Mensch und Tier.
Apropos Tier: Zu den Glanzstücken des Buches gehört das Kapitel, in dem Detering der Marx'schen Analyse des Gebrauchs - oder besser Verbrauchs - von Pferden im Rahmen der frühen Industrialisierung Englands, vor allem im Bergbau und bei der Kohleförderung, nachgeht und als kritischer Ökonom vorführt, wie die Tiere im Frühkapitalismus in Kostenfaktoren umgerechnet wurden. Dass es den Lohnarbeitern nicht besser ging und sie behandelt wurden wie Tiere, ist ein Verbindungsglied zwischen dem romantischen Marx und dem kühlem Analytiker der warenproduzierenden Gesellschaft - ein starker Beleg für Deterings These, dass selbst in den ökonomischen Analysen von Marx ein naturphilosophischer Denkduktus aufzuspüren ist.
Was Detering hier zeigt, ist ein ganz anderer Materialismus im Werk von Marx als der, den die marxistische Orthodoxie herausgestellt hat. Wer sich für Marx interessiert und sich nicht mit ein paar Plattitüden zufriedengeben will, sollte das Buch lesen und seinen Anregungen folgen. Er wird einer Frische des Denkens begegnen, wie man sie in der Literatur zu Marx nur selten antrifft. HERFRIED MÜNKLER
Heinrich Detering: "Die Revolte der Erde". Karl Marx und die Ökologie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025. 221 S., Abb., geb.
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