Was für eine Geschichte: rau, schlicht und auf eine Weise elegant, die einem die Worte aus der Kehle zieht. Helen Keller gelingt das Kunststück, ein Leben zu schildern, das man gemeinhin mit Superlativen überhäufen würde, dabei aber immer auf ehrliche, unaufgeregte Weise. Man spürt die Frustration des kleinen Mädchens, das in einer stummen, dunklen Welt gefangen ist, und dann diese Explosion von Erkenntnis, als Sprache und Berührung plötzlich Sinn ergeben. Kein Kitsch, kein Pathos nur pure, knallharte Menschlichkeit.
Anne Sullivan ist hier nicht nur Lehrerin, sie ist Türöffnerin, Seismograph und gelegentlich die einzige Person, die Helen (und damit dem Leser) ernsthaft begegnet. Die Beschreibungen vom gezeichneten Fingeralphabet bis zum Händedruck der Welt sind so plastisch, dass man meint, die Kälte eines Winterabends auf der Haut zu fühlen. Überall kleine Details, die haften bleiben: das irritierende Gefühl eines Gewitters, der erste Geschmack von Brot, der triumphale Moment, in dem ein Wort zum Schlüssel wird. Das macht das Buch zu mehr als einer Autobiografie es ist ein Lehrstück darüber, was Bewusstsein ausmacht.
Humor taucht immer wieder auf, ganz leise, oft in Form von schiefen, menschlichen Beobachtungen. Helen ist nicht als Heiliger geschrieben, sondern als Mensch mit Ecken, Zweifeln und einem unglaublichen Eigensinn. Das hat mich berührt und manchmal auch zum Schmunzeln gebracht. Stilistisch klar, in seiner Sprache manchmal simpel aber genau das passt: keine unnötigen Schnörkel, stattdessen Authentizität.
Einziger kleiner Wermutstropfen: Gegenwart und Rückblenden wechseln teilweise sprunghaft; das fordert Aufmerksamkeit, kann aber auch die Tiefe erhöhen. Insgesamt ein beeindruckendes, mutiges Buch, das zeigt, wie groß die Welt wird, wenn man die richtigen Türen findet. Unbedingt lesen am besten mit einer großen Tasse Kaffee und dem Gefühl, danach ein bisschen dankbarer durch die Welt zu gehen.