Besprechung vom 12.10.2019
Was vom Versprechen übrig blieb
Der Streit um das wahre Amerika: In ihrer mitreißend erzählten Geschichte der Vereinigten Staaten erinnert Jill Lepore an die Ideale der Verfassung.
Von Paul Ingendaay
Man könnte mit dem Titel dieses Buches anfangen - "Diese Wahrheiten" - und wäre damit beim Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, den Thomas Jefferson im Jahr 1776 niederschrieb: "Wir erachten diese Wahrheiten als heilig und unbestreitbar, dass alle Menschen gleich und unabhängig geschaffen sind, natürliche und unveräußerliche Rechte besitzen, zu denen die Erhaltung des Lebens und der Freiheit und das Streben nach Glück gehören..." Und dann folgt jene weitere "Wahrheit", mit der Philosophie zu Politik wird, so dass aus Gedanken bestimmte Taten folgen müssten, die Wahrheit nämlich, dass "zur Sicherung dieser Ziele Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten".
Das klingt einerseits einfach, andererseits modern. Und doch kann man die amerikanische Geschichte mit Sklavenhandel und institutionalisierter Ungleichheit, mit bedenkenloser Landnahme, Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung zahlloser Menschen kaum anders denn als unablässige Verhöhnung dieser "Wahrheiten" lesen. Expansion, Fortschrittsideen und die Entstehung des Liberalismus haben als begleitenden Schatten Ausbeutung und Tyrannei hervorgebracht, oft spitzfindig begründet, als Naturgesetz verteidigt und von gebildeten Männern mit juristischen Argumenten untermauert - man denke nur an die reale Rassentrennung in den Südstaaten, die noch vor einem halben Jahrhundert üblich war und eher an ein Apartheidsregime denken ließ als an die Vereinigten Staaten von Amerika.
Wie also steht die politische Realität des Landes da, gemessen an seinen Verfassungsidealen? Jill Lepore, Harvard-Historikerin und feste Autorin des "New Yorker", hat darüber eine tausendseitige Geschichte geschrieben, von der man zuerst sagen sollte, das sie tatsächlich Seite um Seite als spannende, zusammenhängende Story lesbar ist, obwohl ihre zentralen Fragen einen dichten theoretischen Gehalt haben: Was ist politische Ordnung? Wie wird sie begründet, umgesetzt und institutionell verankert? Kann es einem Volk gelingen, einer gerechten Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen, oder wird es regiert von Gier und Demagogie?
Um eine solche politische Geschichte zu schreiben, musste die Autorin vieles auslassen: Militär- und Diplomatiegeschichte kommen praktisch nicht vor, Kulturgeschichte kaum, Sozialgeschichte schon deutlich mehr. Der Amerikanische Bürgerkrieg wird nur in seiner Vorgeschichte und seinen Folgen erzählt - über die Schlachten selbst gibt es anderswo ganze Bibliotheken und hier nur eine Seite mit den Verlustziffern.
Was also ist neu? Einmal der leichte erzählerische Ton, der verrät: Dies ist auch ein Gemeinschaftskundebuch. Es soll jeden und jede ansprechen und mit der eigenen Geschichte verknüpfen. Dann der geschickte Wechsel zwischen Vogelperspektive und Individualschilderung. In ihrer Geschichtserzählung gibt Jill Lepore Schwarzen, Indianern, Frauen und Homosexuellen eine Stimme, all denen, die lange Zeit von den Rechtsgarantien des Landes ausgeschlossen waren und es zum Teil bis heute sind. Und schließlich die Verknüpfung von Politik-, Gesellschafts- und Mediengeschichte. Der vierte und letzte Teil des Buchs heißt "Die Maschine". Wir lesen darin vom Prototyp des Computers, den ersten Wahlhochrechnungen und dem Aufstieg mächtiger PR-Firmen, die mit einem klaren Begriff vom Wähler als Konsumenten Politik in eine Ware verwandelten.
Auch einen neuen Typus politischer Aktion erkennt die Autorin auf ihrem Gang durch die Jahrhunderte: den "moralischen Kreuzzug". Da Frauen bis 1920 nicht wählen durften, engagierten sie sich auf andere Weise. Oft sagten sie ihren Männern nicht nur, wen sie zu wählen hatten, sondern auch, wie sie ihr Leben führen sollten, nämlich fromm und ohne Alkohol. Die Abschaffung der Sklaverei wurde so zum Thema der Straße, aber auch Prohibition, Abtreibung und die "MeToo"-Bewegung. Aktivistinnen wie Mary E. Lease oder Phyllis Schlafly, die politisch nicht im selben Lager standen, wirkten aus der Position relativer Machtlosigkeit entscheidend auf gesellschaftliche Prozesse ein; Moralkampagnen von in Europa unbekannter Schärfe gehören zum Gründungsbestand des politischen Lebens in Amerika.
Lepores einfühlsame Schilderungen von Ungleichheit - von Diskriminierung und Erniedrigung bis hin zu den fürchterlichen Statistiken von Lynchmorden an Schwarzen bis tief ins zwanzigste Jahrhundert hinein - sind nicht als links frisierte Gegengeschichte misszuverstehen; sie folgen zwingend aus der Frage nach der Geltung der Verfassungsversprechen in der politischen Praxis und sind der rote Faden im Gewebe dieser mitreißenden Erzählung. Zwischen 1500 und 1800 wanderten zweieinhalb Millionen Europäer nach Amerika ein und brachten zwölf Millionen schwarze Sklaven mit. Die Entrechtung, die damals im Namen des Geschäfts begann, hat über den größeren Teil der Zeit die Wirtschaft der mächtigsten Demokratie der Erde befeuert, und sie schließt die ersten restriktiven Einwanderungsgesetze im späten neunzehnten Jahrhundert ebenso ein wie die rassistischen Ausschreitungen gegen Amerikaner japanischer Abstammung nach dem Angriff auf Pearl Harbour oder Folterungen (Euphemismus: "erweiterte Befragungstechniken") im juristischen Niemandsland Guantánamo.
Auf den letzten hundert Seiten dieses sorgfältig und genau übersetzten Buchs beschreibt Lepore die Radikalisierung in den politischen Lagern, hier bei den Liberalen, dort bei den Konservativen, und beide Seiten kommen schlecht dabei weg. Fand rechte Aggression eher im Radio und den Medien statt - von 1987 bis 1990 wuchs die Zahl der Talkradio-Sender um mehr als das Dreifache, ein virtueller Raum für haltlose, flächendeckende Invektive -, verlagerte sich das Schlachtfeld der Linken an die Universitäten und äußerte sich in Sprachvorschriften und der Gängelung der politischen Debatte. Auf beiden Seiten wurde der Platz für freie Diskussionen enger: "Sie stritten in den Schulen, vor den Gerichten, in der Presse und an den Universitäten. Sie stritten sich mit Worten, und sie stritten sich um Worte. Sie stritten sich mit Zähnen und Klauen und mit Haken und Ösen, und sie glaubten, dass sie sich um das stritten, was Amerika ausmache, aber in Wirklichkeit stritten sie um die nackte politische Macht."
Schon die Clinton-Ära hatte die Wagenburg-Mentalität hervorgebracht, indem sie Skandalbearbeitung an die Stelle von Politik setzte. In diesem Zusammenhang hat das Internet durch die Zersplitterung öffentlicher Foren und den Rückzug des Einzelnen in seinen radikalisierten Privatraum wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Kein amerikanischer Politiker spricht mehr alle Amerikaner an, sondern richtet sich vor allem an die eigenen Anhänger. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001, besonders aber nach der Inauguration des ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten sind viele Wähler zu reizbaren, ideologisierten Netzjunkies verkommen. Bürger werden in den Augen Lepores "vom Hyperindividualismus des Bloggens, Postens und Twitterns" angetrieben, den Mitteln eines neuen Narzissmus. Der Verlust ist unermesslich. Die Appelle von Amerikas Gründervätern ans Gemeinwohl und an verbindende Werte wie Wahrheit und faire Interessensvertretung sind auf den Hund gekommen.
Deshalb bilden Obama und Trump - der Zweite als Antithese des Ersten - nicht zufällig ein schärferes Gegensatzpaar als ihre Vorgänger. Die ideologischen Gräben sind so tief geworden, dass sie unüberbrückbar scheinen, während die Computertechnologie das Ihre dazu tut. Auf dieser skeptischen Note endet das Buch: mit der Schilderung einer fruchtlosen Debatte darüber, inwiefern die sozialen Medien Trump zum Wahlsieg verholfen haben könnten.
Benjamin Franklin übrigens las Jeffersons Entwurf und ersetzte die Attribute "heilig und unbestreitbar" durch "selbstverständlich": Nicht vom Himmel sollten "diese Wahrheiten" kommen, sondern aus dem fragenden Geist des Menschen. Jill Lepores großes Buch erinnert daran, wie weit wir davon entfernt sind.
Jill Lepore: "Diese Wahrheiten." Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
Aus dem Englischen von Werner Roller. C. H. Beck Verlag, München 2019. 1120 S., Abb., geb.
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