Der Atlantik hat sich über Nacht von der Küste Floridas zurückgezogen und eine Wüste hinterlassen. Kreuzfahrtschiffe rosten im Sand vor Miami, die Hotels bleiben leer, der Hafenbetrieb ist eingestellt und selbst die Dauerwerbesendungsindustrie liegt am Boden. Mittendrin eine überambitionierte Indie-Game-Programmiererin, eine strauchelnde Arbeiterfamilie, eine junge Soziologin und ein E-Sport-Team aus Wuppertal. Witzig und traurig, düster und labyrinthisch: »Miami Punk« von Juan S. Guse ist ein Roman über die Bedeutung von Arbeit, über Herrschaft und Macht und über einsame Nächte vor dem Computer.
Ausgezeichnet mit dem KELAG-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022
Besprechung vom 16.03.2019
Schlag und Gegenschlag
Aus Spiel wird Ernst. Und dann doch wieder Spiel? Juan S. Guse tut in "Miami Punk" so, als erzähle er spannende Dystopien. Aber es geht um mehr.
Von Florian Balke
Glauben Sie noch an steigende Meeresspiegel, oder sehen Sie den Untergang der Welt, wie Sie sie kennen, schon durch ganz andere Katastrophen voraus? Juan S. Guse erlaubt sich diesen Gedankenaufschwung zu einem noch exquisiteren Untergang des Abendlandes und beginnt seinen Roman "Miami Punk" mit einem Klimawandel-Akkord, so brutal, gelungen und unerwartet wie ein Schnipsel der Musikrichtung, von der der Roman die Hälfte seines Namens hat.
Miami, eine der Städte, auf deren Gefährdung durch wärmere Ozeane derzeit immer wieder hingewiesen wird, versinkt bei Guse nicht in menschengemachten Fluten, sondern liegt plötzlich neben einer Wüste. Der Atlantik hat sich vor der Südostküste Floridas überraschend zurückgezogen. Nebenan gibt es noch den Golf von Mexiko, auch im Rest der Vereinigten Staaten scheint das Leben seinen gewohnten Gang zu gehen. Aber auch die Bahamas sind trockengefallen, hinter der Inselgruppe ist ein unterseeisches Gebirge sichtbar geworden, und der Strand von Miami ist durch Stacheldraht vom neuentstandenen Niemandsland getrennt.
Auf diesem hübschen Einfall baut Guses zweiter Roman auf, der Umfang und Ehrgeiz seines vor vier Jahren erschienenen Debüts "Lärm und Wälder" weit übersteigt. Die mit schwungvollen Zügen und vielen feinen Einzelheiten ausgemalte Welt einer Stadt, der mit dem Meer ihr Daseinsgrund abhandengekommen ist und die in mehrfachem Sinne auf dem Trockenen sitzt, wird nach und nach verlockend aufgebaut. Erzählt wird mit rätselhafter Selbstverständlichkeit; nur stückweise folgen Erklärungen, die sich dann um so befriedigender ausnehmen, möglicherweise aber auch nur weiter in die Irre führen. Guse nimmt sich viel Zeit für die Einführung eines großes Arsenals von Figuren und Seltsamkeiten. Das Miami dieses Romans ist erkennbar das uns bekannte, zugleich aber auch ein ganz anderes.
Am Himmel über der Stadt stehen die Zeppeline staatlicher Kontrollorgane, die die sogenannten Pilger daran hindern sollen, durch die Wüste in Richtung Gebirge vorzudringen. Viele von ihnen sind dazu durch das Tagebuch eines Wanderers angeregt worden, das gefälscht sein könnte. Zumindest werden seine Fragmente dem Leser mit Fußnoten präsentiert, die darauf verweisen, bei welchen Klassikern der Verfasser einzelne Stellen abgeschrieben hat, von Thomas Mann bis Bruno Schulz. Da das Zurückweichen des Meeres sich auch auf den Grundwasserspiegel ausgewirkt hat, ist Miami zudem nicht nur ohne Trinkwasser, sondern hat auch ein Alligatorenproblem. Die Tiere treiben sich nicht länger in Sümpfen und Wasserläufen herum, sondern haben den Sprung an Land gewagt. Zum Glück gibt es seit einiger Zeit zahlreiche Ringervereine, deren Mitglieder den Nahkampf mit den Echsen trainieren.
In dieser Welt lebt Robin, die seit ihrer Kindheit Computerspiele programmiert, von denen es heißt, sie seien genial. Das, an dem sie gerade arbeitet, heißt "Das Elend der Welt" und soll sich für seine Spieler so immersiv anfühlen wie das Leben selbst. Da ist Robins Freundin Daria, die im Rowdy-Yates-Komplex wohnt, einem heruntergekommenen Hochhaus-Ensemble im Nordwesten der Stadt, das aus sieben Wohntürmen und einem Sockel aus mehreren Etagen besteht. Es hat seinen Namen über die dystopische Welt des Judge Dredd in der Comicserie "2000 AD" von einer Rolle Clint Eastwoods in einer Westernserie der Fünfziger und ist nur eines von vielen überdeterminierten Zeichen in diesem Werk der Verweise und falschen Fährten.
Ebenso rasante Fahrt wie Miamis nach der Katastrophe auch weiterhin beliebte Pizzalieferanten nimmt das Buch durch den Erzähler umfangreicher Passagen auf, der als Tourist in die Stadt kommt. Lustlos arbeitet er an der Bergischen Universität Wuppertal an seiner literaturwissenschaftlichen Habilitation, in Miami nimmt er an einem Turnier von Fans des Computerspiels "Counter Strike" teil. Sein Auftauchen macht klar, welch vielschichtiges Spiel nicht nur Robin mit ihren Gamern, sondern auch Guse mit seinen Lesern spielt. Auf Seite 60 macht der Gast aus Wuppertal eine scheinbar beiläufige Bemerkung, die vom haltsuchenden Leser sofort als Hinweis auf den gesamten Roman begriffen wird: "Der Zustand der Stadt erinnerte mich an die Prosa José Saramagos, der manchmal nur eine einzige Grundvariable der Welt veränderte." Später fasst der Nerd die Szenarien seines geliebten Spiels zusammen: "Alle CS-Maps eint, dass sie letztlich Unorte sind: surreal fiktiv, brüchig, absurd u. unglaubwürdig." Das gilt auch für "Miami Punk" als Ganzes.
Ständig muss der Leser sich neu orientieren, die Lage sondieren und entscheiden, was er von der Welt, durch die er sich gerade bewegt, eigentlich hält. Es ist, als befände er sich mitten in einer Partie "Counter Strike". Der Roman ist allerdings alles andere als die hart heruntergeschrammelte Dystopie, als die er sich hier und da gibt. Viel wichtiger sind die Brüche, die ihn durchziehen wie die "Glitches" im Spiel, von denen der Wuppertaler berichtet. Wer erzählt hier eigentlich wen? Gibt es die Pilgersiedlungen im Gebirge überhaupt? Und was verbindet den spinnerten Bürgerkonvent, der in den unteren Rowdy-Yates-Etagen tagt, mit der Untergrundbewegung "Miami Punk"? Inmitten all dieser Fragen ist das Buch sich jeder ästhetischen Falle bewusst, die es stellt. Kaum hat man die ironischen, wuchernden und handlungsmäßig auf der Stelle tretenden 635 Seiten einmal kurz aus der Hand gelegt und erbost mit Werken wie Clemens Brentanos "Godwi" verglichen, die auf dem Friedhof der Literaturgeschichte ein vom Publikum selten besuchtes, von Germanisten gepflegtes Ehrengrab besitzen, da wird dem Leser auch schon der "Poetische Staat" erläutert, eine literarische Gruppierung, die das deutsche Feuilleton einen Sommer lang bezaubert und Züge der Romantik trägt. Der Leser mag ankommen, wo er will, "Miami Punk" ist immer schon da.
Von Zeit zu Zeit wünscht man sich, all diese Personen und Ereignisse bekämen Auslauf auf dem freien Feld eines weniger komplizierten Werkes und könnten ungehindert dahinstürmen. Stattdessen errichtet Guse ein Labyrinth interpretativer Sackgassen, in dem der Leser sich mit einem Buch messen muss, das sich ihm fortwährend entzieht. Dabei gelingt ihm das doppelte Kunststück, den Roman mit all dem, was fiktionale Prosa mit dem Weltenbau, der Immersionssucht und der Regelhaftigkeit von Computerspielen gemein hat, geradezu zu überfluten, gleichzeitig aber die fundamentalen Unterschiede zwischen Buch und Game herauszuarbeiten. Denn "Miami Punk" ist eben nicht "Counter Strike". Hier kommt es nicht auf Entscheidungen zwischen zwei Zuständen an. Der letzte Spielzustand dieses Romans ist die völlige Ambivalenz. Da liegen Wortkunst und Spiele-Industrie plötzlich so getrennt nebeneinander wie Miami und die Wüste.
Juan S. Guse: "Miami Punk". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019. 637 S., geb.
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